Nach dem Abschied von den „großen Erzählungen“ kommt das Erzählen. Das ist nicht so neu und unterliegt Konjunkturschwankungen. Nach der Wende sollten wir uns unsere Geschichten aus Ost und West erzählen – und es hat wohl wenig genutzt, vergangenes Jahr wiederholte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier den Appell, wieder mehr miteinander zu reden und zuzuhören und in unseren Geschichten einen gemeinsamen Verstehkern freizulegen. Auch bei Veranstaltungen der Grünen ist seit einigen Jahren zu hören, dass man neue „Narrative“ brauche. Und im kürzlich erschienenen Magazin Historische Urteilskraft des Deutschen Historischen Museums preist der Schriftsteller Daniel Kehlmann den „Möglichkeitssinn“ des his
220; des historisch Erzählbaren.Diese Hinwendung zum Narrativen ist auch ein Ausdruck für die Krise der Theorie, mit der moderne Krisenphänomene offenbar nicht mehr beschreibbar und schon gar nicht zu bewältigen sind. Das Misstrauen gegenüber den großen Welterklärungsmodellen beschleunigte aber auch die Wiederentdeckung jener Denker und Denkerinnen, die sich solchen Entwürfen stets verweigert haben. Zu ihnen gehört allen voran die oftmals als „schlechte Theoretikerin“ geschmähte Philosophin Hannah Arendt.Parvenü, Paria, PartizipationSeit mindestens zwei Jahrzehnten fahndet der akademische Nachwuchs nun nach Versatzstücken – Arendt würde mit Walter Benjamin sagen: nach „Perlen“ – in ihrem Werk, die für eine Politik der Welterfassung fruchtbar zu machen wären. Während Arendt für die Vorgängergeneration verdächtig war, das Paradigma des Totalitarismus in den breiten Diskurs eingeführt und mit der Gleichsetzung von Nationalsozialismus und Stalinismus die NS-Herrschaft relativiert zu haben, sehen die Jüngeren – im Anschluss etwa an die Theorie des Lagers von Giorgio Agamben – darin weniger die konkret politischen als die strukturellen Implikationen. Die feministischen Lektüren der Studie über Rahel Varnhagen wiederum versuchten, die Figur des Parias, mit dem Arendt den Ort des Jüdischen in einer nichtjüdischen Gesellschaft beschreibt, auszuweiten auf die soziale Stellung der Frau und die Ordnungsmuster „Jude“ und „Frau“ aufeinander zu beziehen.Mittlerweile konzentriert sich die Rezeption auf Arendts Denken ohne Geländer, sicher befördert von der bei Wallstein erscheinenden Kritischen Gesamtausgabe ihrer Werke. Eine auf ihre „Kritik an der Erd- und Weltentfremdung“ konzentrierte Lesart schlägt nun Maike Weißpflug in ihrem Buch Hannah Arendt. Die Kunst, politisch zu denken vor. Der am Museum für Naturkunde tätigen Politikwissenschaftlerin, die auch den Theorieblog Politische Theorie, Philosophie und Ideengeschichte mitbetreibt, geht es vor allem um die Methode des Denkens: „Wer keinen Charakter hat“, stellt sie ihrer Untersuchung ein Motto von Albert Camus voran, „muss sich wohl oder übel eine Methode zulegen.“ Und Arendts Methode, zitiert Weißpflug ihre Gewährsfrau, bestehe darin, zu erzählen: „Was uns frei macht, sind die Dinge, von denen wir erzählen können.“ Damit ist ein weiterer Pflock auf dem Gelände der politischen Narration eingeschlagen.Weißpflug greift dabei auf die im Werk Arendts prominente Rolle der Literatur zurück. Literatur, insbesondere die griechische Mythologie, erklärte Hannah Arendt in ihrem berühmten Interview mit Günter Gaus, sei für ihr Denken immer von großer Wichtigkeit gewesen, und sie hielt sie als Ressource offenbar für gewinnbringender als rationale systematische Theorien. Ausgangspunkt für das Arendt’sche Denken ist der Traditionsbruch, weil sich die Krisenerscheinungen der Moderne mit dem Instrumentarium der überlieferten Ideengeschichte nicht mehr erfassen lassen. Die „totale Herrschaft“, wie sie der Nationalsozialismus erstmals hervorgebracht habe, mache die herkömmlichen Bedingungen des Urteilens und Handelns obsolet, insofern er sich aller bisherigen Werte entledigt und alle Spielräume spontanen Handelns aufgehoben habe.Streng geht Arendt auch mit den Freiheitsversprechen der Aufklärung ins Gericht. Die Vorstellung jüdischer Assimilation und paritätischer Teilhabe erzeugt, so Arendt, einen Überanpassungsdruck und bringt den Parvenü hervor. Wollen Juden ihr Jüdischsein aber bewahren, bleiben sie Parias. Diese von Arendt durchaus überhöhte ästhetische Figur – repräsentiert etwa in Heinrich Heines Schlemihl – steht außerhalb, sozusagen auf exklusivem Beobachtungsposten.Das hat – obwohl es einen Ort außerhalb der Gesellschaft nicht geben kann – nicht nur Feministinnen inspiriert, sondern beflügelt heutzutage auch die kulturrelativistische Debatte, insbesondere im Hinblick auf die Kritik an der Homogenität politischer Erfahrungsräume. Am Beispiel eines viel diskutierten Beitrags von Hannah Arendt über die Geschehnisse in Little Rock 1957, ein Schlüsselereignis für die schwarze Bürgerrechtsbewegung in den USA, zeichnet Weißpflug nach, wie die partikulare Erfahrung einer europäischen Jüdin, der der Erfahrungshintergrund der Schwarzen fehlt, Arendt dazu verführt, ein Ereignis falsch zu beurteilen. Der Impuls, sich jedem Mitgefühl mit den Opfern zu entziehen, mache sie blind für die strukturellen Zwänge ihres Handelns und unfähig zu der von Arendt selbst eingeforderten multiperspektivischen Betrachtung.Noch eindringlicher jedoch verfolgt Weißpflug die Art und Weise, wie Arendt Literatur in ihr Denken einbezogen und produktiv gemacht hat. Die literaturaffine Theoretikerin hegte ein tiefes Misstrauen gegen alles Abstrakte und war davon überzeugt, dass Ideen anfällig seien für Ideologie, der auch durch entlarvende Ideologiekritik nicht beizukommen sei. „Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht“, zitiert sie Kafka und schlägt damit gerade den Linken ein wichtiges Handwerkszeug aus der Hand. Dagegen bringt Arendt einen recht aufgeladenen Begriff des „spontanen Handelns“ in den Verkehr, das Vermögen, immer wieder neu anzufangen, das, statt von einer Idee geleitet, von Erfahrung gesättigt ist.In den Lektüren von Homer, Kafka, Conrad, Melville und Brecht begleitet Weißpflug Arendts Konzept dieser erzählten reflektierten Erfahrung. Während die Bürger der Polis ihre Gleichheit – soweit man im Hinblick auf die Ungleichen davon überhaupt reden kann – auf Grundlage ihres gemeinsamen Handelns bestätigten, offenbart sich für Arendt in Kafkas Romanen der Vorschein totaler Herrschaft, der mit einem allgemeinen Realitäts- und Sinnverlust einhergeht. Kafka schreibt an der Nahtstelle ebenjenes Traditionsbruchs, den Arendt konstatiert. Joseph Conrad wiederum ist für Arendt das Musterbeispiel eines Schriftstellers, der beschreibt, „was ist“, in diesem Fall einen unverstellten kolonialen Rassismus. Gegen alle „Tendenzkunst“ – selbst wenn sie von Brecht stammt – muss sich Literatur ästhetisch beweisen und die Urteilskraft schärfen, wie sie an einer gegen den Strich gebürsteten Melville-Lektüre exemplifiziert.Auch wenn in diesem Teil die Gepflogenheiten der akademischen Qualifikationsarbeit stark durchscheinen, ist Weißpflugs literaturwissenschaftlicher Durchgang durch Arendts Werk durchaus anregend. Doch haben die aus der Literatur gewonnenen Maßstäbe – Perspektivwechsel, Dialogizität und Polyphonie – tatsächlich das Potenzial, das politische Denken zu revolutionieren, wie Weißpflug im dritten Teil ankündigt? Reicht das vorgeschlagene „limitierte Denken“ weit genug, um nicht nur die politische Praxis handhabbarer zu machen, sondern Gesellschaft zu verändern? Gerät Multiperspektivität nicht in die Nähe des Relativismus?Freiheit ist immer begrenztWeitblickend ist Arendt dort, wo es – schon unter dem Eindruck atomarer Bedrohung – um Zeitdiagnose geht: Ihre Kritik am „Produktionsparadigma“, der Vorstellung, die Welt von einem „archimedischen Punkt“ aus berechenbar und kontrollierbar zu machen, bleibt aktuell, es erzeugt auch heute immer neue politische und wissenschaftliche Mythen. Der anthropozentrische Standpunkt negiert die Bedürfnisse der Natur und der Dinge. Die Freiheit, zentraler Begriff im Denken Arendts, sei aber durch die radikale Entgrenzung der Handlungszusammenhänge bedroht, denn Freiheit ist räumlich und zeitlich immer begrenzt.Zu fragen wäre aber, ob das konkret Erzählbare – etwa über den Klimawandel –, das überschaubare Miteinander und die Vielfalt der Perspektiven ausreichen, um Welt verstehbar zu machen. Können gegenläufige Interessen versöhnt werden, wenn sich nur alle auf der „Bühne“ versammeln und einen politischen „Erscheinungsraum“ bilden, wie Weißpflugs Bild politischer Welterschließung suggeriert? Bei aller Skepsis gegenüber politischer Normativität und Repräsentation, bei allem berechtigten Einspruch der Erfahrung: Die Welt ist mehr als ein Erzählraum und ein Ort spontanen Handelns, von denen sich Weißpflug einfangen lässt. Die „kleinen Erzählungen“, die mittlerweile auch journalistisch en vogue sind, machen die Zerstörung und das Leid vielleicht fassbar, doch sie verhindern sie nicht. Man muss kein Sucher der „Wahrheit“ sein, um dies als Wahrheit zu erkennen.Placeholder infobox-1Placeholder infobox-2
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