Angst ist ein schlechter Ratgeber

Impfen Gegner und Befürworter stehen sich unversöhnlich gegenüber. Mehr Aufklärung könnte die Fronten aufweichen
Ausgabe 06/2017
Jedes Mal, wenn das Masernvirus verstärkt auftaucht, wird eine Impfpflicht diskutiert
Jedes Mal, wenn das Masernvirus verstärkt auftaucht, wird eine Impfpflicht diskutiert

Foto: Science Photo Library/Imago

Nun hat sich sogar der Vatikan in den Streit eingemischt. Am vergangenen Montag verkündete der Direktor des Bioethik-Instituts der katholischen Mailänder Universität, Antonio Spagnolo, dass Impfungen zur sozialen Pflicht jedes Menschen gehörten. Wer sich dem verweigere, gefährde alle Menschen, die sich aufgrund von Immunproblemen nicht impfen lassen können. Festgehalten ist dies in der Neuausgabe der vatikanischen „Charta der im Gesundheitsdienst tätigen Personen“, einem Handbuch, das die kirchenpolitischen Positionen rund um die Gesundheit dokumentiert.

Soziale Pflicht oder selbstbestimmte Entscheidung? Kaum ein medizinisches Terrain ist so umstritten wie das Impfen. Was Befürworter wie der Vatikan als „soziale Pflicht“ reklamieren, empfinden Gegner als Eingriff in ihr Persönlichkeitsrecht, während gemäßigtere Impfskeptiker die Nebenwirkungen des Impfens hervorheben. Befürworter und Gegner verbindet, dass sie mit dem Kindeswohl argumentieren: Die einen behaupten, Kinder würden durch Nichtimpfen unverantwortlich Krankheiten ausgesetzt. Die anderen berufen sich auf das Recht auf körperliche Unversehrtheit.

Der Kampf ums Impfen – und insbesondere um die Masernimpfung – treibt teilweise bizarre Blüten. Vergangenes Jahr etwa musste Robert De Niro die Dokumentation Vaxxed. From Cover-up to Catastrophe vom New Yorker Filmfestival „Tribeca“ zurückziehen, in der es um den vermeintlichen Zusammenhang zwischen Impfen und Autismus geht. Doch die Studie von Andrew Wakefield, auf der der Film beruht, stellte sich als unwissenschaftlich heraus, Wakefield verlor seine Approbation. US-Präsident Donald Trump ist allerdings bis heute davon überzeugt, dass die Impfung Autismus auslösen kann.

Schulverbot verhängt

Die Auseinandersetzung ums Impfen hat im ohnehin impfmüden Deutschland Gräben hinterlassen, die jedes Mal tiefer werden, wenn neue Maserninfektionen auftreten. Das Frankfurter Gesundheitsamt hat an einem Gymnasium in Höchst Schulverbote gegen Schüler und Lehrer ausgesprochen, die keine zweimalige Masernimpfung nachweisen konnten oder deren Impfstatus unklar war und die nicht bereit waren, sich sofort impfen zu lassen. Anlass war der Verdacht auf Masern bei zwei von 800 Schülern. Da auch Lehrer von der Maßnahme betroffen waren, wurden nicht nur die betroffenen Kinder und Jugendlichen nicht beschult, es fiel auch Unterricht aus.

Grundlage ist das Bundesseuchengesetz. Es sieht vor, dass Schüler mit meldepflichtigen übertragbaren Krankheiten den Unterricht nicht besuchen dürfen. Von Schülern und Lehrern, die gegen die entsprechende Krankheit nicht geimpft sind, ist dort zwar nicht die Rede, doch 2015 urteilte das Berliner Verwaltungsgericht, dass ein Schulverbot „verhältnismäßig“ sei. „Bei Masern verstehen wir keinen Spaß“, erklärte auch der Leiter der staatlichen Gesundheitsbehörde René Gottschalk und folgt damit dem strengen Regime der WHO-Regionaldirektion Europa, die die Unterbrechung der epidemischen Masern und Röteln anstrebt. In 21 Ländern ist dies bei Masern gelungen, in 20 bei Röteln, indem eine Durchimpfungsrate von 95 Prozent erreicht wurde. Die Bundesrepublik, wo die Durchimpfungsrate bei rund 90 Prozent liegt, gehört nicht dazu.

Denn Deutschland kennt zwar eine Schulpflicht, eine Impfpflicht existiert hierzulande aber nicht. Insofern ist der mit dem Impfstatus begründete Ausschluss von Schülern aus dem Unterricht auch problematisch. Die Tatsache, dass fast jeder die Möglichkeit hat, sich impfen zu lassen, begründet eine Art Bringschuld von Eltern und Schülern wie es auch der Vatikan dekretiert. „Die Zahl derjenigen Menschen“, erklärt Steffen Rabe vom „Verein Ärzte für individuelle Impfentscheidung“, „die sich beispielsweise aufgrund eines angeborenen Immundefekts nicht impfen lassen können, ist verschwindend gering und gibt keinen Anlass, so massiv in die Schulpflicht und das Recht der Schüler auf Beschulung einzugreifen.“ Einen Schulausschluss nur auf Verdacht hin hält er für moralisch und rechtlich höchst problematisch. „Das ist bisher noch nicht bis zum Letzten vor Gerichten ausgefochten worden.“

Rabe und seine in der Vereinigung zusammengeschlossenen Kolleginnen und Kollegen sind erklärtermaßen keine Impfgegner, sondern attestieren Impfungen einen wirksamen Schutz. Ihnen geht es jedoch um umfassende Aufklärung hinsichtlich der Nebenwirkungen von Impfungen. Das benötigt Zeit, die im normalen Praxisbetrieb nicht vorhanden ist und mit rund vier Euro von der Krankenkasse auch nicht ausreichend honoriert wird. Die Empfehlungen der Ständigen Impfkommission wollen die Ärzte tatsächlich als Empfehlungen verstehen und nicht als „Impfvorschrift“ oder gar als eine von ihnen abgelehnte Impfpflicht.

Doch genau das ist, wie das Frankfurter Bespiel zeigt, der Effekt etwa von Schulausschlüssen. Im Kampf um die Volksgesundheit bleibt es dem Einzelnen nur noch bei Strafe – etwa Schulausschluss oder Arbeitsverbot – überlassen, sich gegen eine Präventionsmaßnahme zu entscheiden. Impfen sei „ein Akt der Solidarität“, bekräftigt Udo Götsch vom Frankfurter Gesundheitsamt gegenüber der Frankfurter Rundschau. Wer sich nicht impfen lasse, genieße den Herdenschutz, ohne etwas dazu beizutragen. Allerdings ist bei vielen Impfungen gegen Kinderkrankheiten, zum Beispiel Keuchhusten oder Mumps, ein Herdenschutz gar nicht gegeben, und wenn doch, wie bei Masern, ist er nicht so sicher wie die Herdenimmunität, die eine Population nach überstandener Erkrankung aufweist.

Aber Masern sind die Kinderkrankheit, über die besonders viele Mythen kursieren und die besondere Angst auslöst. Dabei waren Masern vor 40 Jahren noch eine relativ normale Kinderkrankheit, die von den meisten durchgemacht und ohne Folgen bewältigt wurde. Während die betroffenen Kinder damals in der Regel zu Hause gepflegt wurden, landet heute ein Viertel bis ein Drittel aller Masern-Fälle im Krankenhaus. Rabe erklärt das damit, dass in vielen Familien die zeitintensive und aufwendige Pflege gar nicht mehr geleistet werden kann. Außerdem hätten Kinder- und Hausärzte damals noch viel mehr Erfahrung mit der Diagnostik und Therapie von Kinderkrankheiten gehabt, und „sie waren juristisch auch noch nicht so eingeschüchtert“.

Umstrittene Auffrischung

Ein Krankenhausaufenthalt ist aber auch deshalb oft nötig, weil die Krankheit heute schwerer verläuft als früher, wo Masern in der Regel vor dem zehnten Geburtstag aufgetreten sind. Heute haben die Kinder gar keine Chance mehr, sich anzustecken, die Patienten sind heute älter, und damit nehmen auch die Komplikationen zu. „Nicht die Masern sind gefährlicher geworden, sondern sie wurden durch unsere Impfstrategie ins Erwachsenenalter verschoben“, so Rabe.

Von der routinemäßigen Zweitimpfung, die auch an der Frankfurter Schule nachgewiesen werden musste, hält Rabe wenig. Im Unterschied zur Tetanusimpfung, die, wie die meisten Menschen wissen, regelmäßig aufgefrischt werden muss, ist die zweite Masernimpfung keine Auffrischungsimpfung, sondern eine Auffangimpfung. Die meisten Patienten in Rabes Praxis sind nur einmal geimpft, er lässt dann die Antikörper bestimmen, um sicherzugehen, dass die Impfung angeschlagen hat. Nur in acht Prozent sei eine Wiederholung nötig.

Für die Hersteller von Impfseren ist es allerdings erheblich lukrativer, eine ganze Population zweimal „durchimpfen“ zu lassen. Dabei sind 92 Prozent der Kinder, die nach dem ersten Geburtstag gegen Masern geimpft werden, immun, mit der Zweitimpfung steigert sich der Immunschutz um nur zwei Prozent, daran ändern auch Kampagnen wie „Deutschland sucht den Impfpass“ nichts. Rabe weist darauf hin, dass es weltweit immer einen bestimmten Prozentsatz geben wird, der auch nach der zweiten Impfung nicht immun gegen Masern ist. Deshalb würden sie nie vollständig ausgerottet werden.

Doch der Druck auf die Politik ist immens. Bei jedem Masernvorkommen wird erwogen, eine generelle Impfpflicht einzuführen. Als 2015 in Berlin Masern ausbrachen und zum Tod eines Kindes führten, sinnierten Gesundheitspolitiker wie Karl Lauterbach (SPD) oder Jens Spahn (CDU) über Maßnahmen, wie die Impfbereitschaft in der Bevölkerung zu steigern sei. International wird darüber nachgedacht, bei Kampagnen für Schutzimpfungen zu verfahren wie auf Zigarettenschachteln: Masern und Grippe können tödlich sein. Ob dies die Eltern tatsächlich umstimmen würde, ist aber fraglich, denn Menschen, die ihre Kinder nicht impfen lassen, haben ja gerade das Wohl ihrer Kinder im Blick.

Ein weiterer Grund für die Impfzurückhaltung der Deutschen könnte auch darin liegen, dass heutzutage fast nur noch Kombinationsseren – im Fall von Masern wird auch gegen Röteln und Mumps geimpft – verfügbar sind und die Kinder schon sehr früh geimpft werden. Manche Eltern wollen ihnen das nicht zumuten. Einige nordeuropäische Länder empfehlen Impfungen ohnehin erst mit 15 oder 18 Monaten, weil sie dann wirksamer sind.

So wichtig die Prävention auch sei, sagt Steffen Rabe, sie habe immer auch zwei Seiten. Denn Präventionsmaßnahmen sind gewinnbringender als therapeutische, einfach deshalb, weil sie mehr Menschen erreichen. „Gerade weil wir Impfungen an Gesunden durchführen, muss ihre Sicherheit höchsten Ansprüchen genügen – und fast alle Studien hierzu stammen von den Herstellern selber und sind damit nicht unabhängig.“

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin (FM)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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