Bundestag entscheidet über Suizidhilfe: Der letzte Wille, den man bereut
Selbstbestimmtes Sterben Lange wurde die Debatte verschoben, dabei hatte das Bundesverfassungsgericht bereits 2020 geurteilt: Jeder Mensch hat das Recht auf selbstbestimmtes Sterben. Eine gesetzliche Regelung gibt es aber weiterhin nicht
Exklusiv für Abonnent:innen
|
Ausgabe 27/2023
|
Aktualisiert am
06.07.2023, 13:15
Der Bundestag stimmt gegen zwei Gesetzentwürfe zur Suizidhilfe
Foto: Andreas Muhs/Ostkreuz
Hätten sich Renate Künast (Grüne) und Katrin Helling-Plahr (FDP) im Bundestag durchgesetzt, wollte Ärztebund-Chef Klaus Reinhardt der Ärzteschaft raten, sich nicht zu beteiligen. Diese ungewohnt unverblümte Drohung bezog sich auf die lange verschobene und in der letzten Sommersitzung des Bundestags angesetzte Entscheidung über die Suizidhilfe. Keiner der beiden Gesetzentwürfe zur Neuregelung der Sterbehilfe erzielte am Donnerstag jedoch die erforderliche Mehrheit.
Ein weitreichendes Urteil des Bundesverfassungsgerichts 2020 hatte das gegenwärtige Verbot geschäftsmäßiger Suizidhilfe moniert und jedem Menschen das Grundrecht auf selbstbestimmtes Sterben eingeräumt, soweit er oder sie volljährig und voll entscheidungsfä
ngsfähig ist. Dabei spiele auch Alter, die Schwere der Krankheit oder die der Notlage keine Rolle. In den darauf folgenden Jahren hatten drei verschiedene Parlamentariergruppen – wie in bioethischen Belangen üblich fraktionsübergreifend – jeweils einen Gesetzesentwurf ausgearbeitet.Ärztlich assistierter Suizid: Was weiter verboten bleibtUm einer vom Strafrecht befreiten Ausgestaltung des ärztlich „assistierten Suizids“ im Bundestag überhaupt eine Chance zu geben, einigten sich zwei Gruppen schließlich auf einen Entwurf. Er ist mit den beiden von Reinhardt genannten Namen Helling-Plahr und Künast verbunden und wird auch von Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) mitgetragen. Die 114 Unterstützer wollten volljährigen Sterbewilligen den Zugang zu Arznei- und Betäubungsmitteln sichern, sofern sie über ihren Selbsttötungswunsch frei entscheiden und sich innerhalb einer Frist von drei bis zwölf Wochen vor der Verschreibung des Medikaments hätten beraten lassen. Die dazu bereiten Ärzt:innen müssten diese dann umfassend medizinisch aufklären. Die Bundesländer sollten verpflichtet werden, für ein ausreichendes, kostenloses Beratungsnetz zu sorgen.Der zweite, von Lars Castellucci (SPD) und Kirsten Kappert-Gonther, der gesundheitspolitischen Sprecherin der Grünen, vertretene Entwurf wollte die geschäftsmäßige, also auf Wiederholung gerichtete Unterstützung der Selbsttötung weiterhin unter Strafe stellen und nur in Ausnahmefällen erlauben. Dann wären mindestens zwei fachärztliche psychiatrische oder psychotherapeutische Untersuchungen vorgeschrieben und eine weitere Beratung. Verboten bleiben sollte auch die Werbung für die Hilfe zum Suizid. 111 Abgeordnete unterstützten diesen Entwurf. Das zeigte vor der Abstimmung schon eines sehr deutlich, dass es knapp werden würde. Der erste Entwurf scheiterte in der Abstimmung schließlich mit 287 Ja-Stimmen zu 375 Gegenstimmen. Für den zweiten Entwurf votierten 304 Abgeordnete, 363 stimmten dagegen.Kurz vor der Abstimmung hatten Bundesärztekammer (BÄK), wissenschaftlich-medizinische Fachgesellschaften und das Nationale Suizidpräventionsprogramm den Bundestag in einer gemeinsamen Erklärung vor einer übereilten Entscheidung gewarnt. Der Entwurf, so die BÄK, werde der Komplexität von Suizidgedanken und Suizidhandlungen nicht gerecht und es bestehe die Gefahr, einer „gesellschaftlichen Normalisierung des Suizides Vorschub zu leisten“. Beide Gesetzesentwürfe, so weitere Stellungnahmen, böten scheinbar einfache Lösungen für ein sehr komplexes Problem.Reinhard Lindner vom Nationalen Suizidpräventionsprogramm bezweifelt den behaupteten Selbstbestimmungsgedanken: „Wenn es leichter ist, sich über einen festgelegten Regelungsweg assistiert zu suizidieren, als Hilfe und Unterstützung zum Weiterleben zu erhalten, wird die Möglichkeit zu einer selbstbestimmten Entscheidung über das eigene Leben eingeschränkt.“ Einige Akteure aus der Hospizbewegung weisen darüber hinaus darauf hin, dass die Suizidassistenz zu gesellschaftlichen Fehlentwicklungen führen könnte, und appellieren an den Bundestag, diese besser gar nicht per Gesetz zu regeln, sondern die gesundheits- und sozialpolitischen Bedingungen, die den Suizidwunsch fördern, zu verbessern.9.215 Menschen begingen 2021 in Deutschland Suizid, drei Viertel davon Männer. Die neuen Bundesländer stehen an der Spitze, ältere Menschen beenden deutlich öfter ihr Leben als jüngere. Viele Studien belegen, dass der Sterbewunsch zeitlich begrenzt ist und Menschen nach einigen Wochen oder einem Jahr anders entscheiden. Nur 30 Prozent derjenigen, die einen Suizidversuch hinter sich haben, versuchen es später noch einmal. Der Selbsttötungswunsch wird oft befördert von Depressionen, die behandelt werden könnten. Oder er wird ausgelöst durch Krisensituationen und wird durch äußere Umstände – zum Beispiel den Wunsch, Angehörige zu entlasten – bestärkt. Viele fürchten den absehbaren Handlungs- und Kontrollverlust.Oft finden Betroffene keine fachärztliche Betreuung oder andere Unterstützung. Sie werden alleingelassen und verfügen über ihren Tod, wie es ihnen das neoliberale Biografie-Management verordnet hat: selbstbestimmt im Sinne von individueller Selbstverantwortung. Der Suizid, so die Bochumer Ethikprofessorin Karin Michel, sei „die letzte Gestaltungsmöglichkeit des Lebens“ und wird als Anspruch an den Staat proklamiert.Das verwundert nicht, angesichts der Bedarfe an Versorgung und Pflege, die der Staat umgekehrt nicht zu befriedigen vermag. In europäischen Ländern wie den Niederlanden oder Belgien, in denen Tötung auf Verlangen besonders liberal geregelt ist, steigen die Fallzahlen seit Jahren rasant. In Holland wuchs der Anteil der Menschen, die 2021 ärztliche Hilfe zum Sterben in Anspruch nahmen, um zehn Prozent im Vergleich zum Vorjahr und stellt inzwischen 4,5 Prozent aller Sterbefälle.Die starke Befürwortung einer liberalen Sterbehilferegelung in Deutschland muss dagegen relativiert werden. Befragungen zur Einstellung zu Suizidassistenz, das hat das Nationale Suizidpräventionsprogramm repräsentativ ermittelt, hängen sehr stark von der Art der Frage ab und von den verfügbaren Alternativen. Es scheint noch viel Aufklärung nötig. Wäre es also nicht besser, die gesellschaftliche Debatte zu forcieren? Statt ein Gesetz – gleich welches – im Schweinsgalopp durch den Bundestag zu jagen, von dem der frühere Verfassungsrichter Udo Di Fabio befürchtet, dass es mit neuer Bürokratie und neuen Beratungsgremien einen falschen Weg einschlagen würde, um die Autonomie des Menschen zu schützen?Auch wenn das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber einen – nicht unumstrittenen – Auftrag erteilt hat, sollte er sich seiner weitreichenden Verantwortung bewusst sein, auch im Hinblick auf Suizidprävention, wie sie der Deutsche Ethikrat 2020 einklagte.Placeholder infobox-1