Der Wille zur Nachahmung kennt keine Grenzen

Natürlich künstlich Nichts auf dieser Welt ist mehr Original. Auch vorm Menschen macht der rastlose Imitationstrieb nicht Halt

Nichts auf dieser Welt ist mehr Original: Im Schokokeks steckt billiger Kakao, in angeblich hochwertigen Wasabi-Erdnüssen wird eine üble Algenpampe zusammen­gerührt und der Käse entpuppt sich als krudes Analogprodukt. Die Verbraucher benötigen im Supermarkt eine Lesebrille für das Kleingedruckte, und die Republik hat einen neuen Lebensmittelskandal. Alles Käse?

Doch auch vorm Menschen macht der rastlose Imitationstrieb nicht Halt. ­Schon das Klonschaf Dolly hat uns gelehrt, dass wir unendlich replizierbar sind und die mitunter mühsame Reproduktion – zumindest im Prinzip – ­irgendwann überholt sein könnte. Künstlich erzeugte Tiere und Menschen, künstliche Organe, künstliche Eizellen oder Gebärmütter, nichts ist dem ­forschenden Nachahmungswillen heilig, auch nicht der Saft, der das Leben macht.

Einer britischen Forschergruppe um Karim Nayernia ist es gelungen, aus ­embryonalen Stammzellen Spermien zu entwickeln. Immerhin war dazu, das mag Männern ein kleiner Trost sein, noch ein lebendiger Mann die Vorlage; das parallel aus einer weiblichen Stammzelle ­gezüchtete Pendant blieb auf einer Vorstufe stecken – das Y scheint eben doch ein „tragendes“ Element.

Seit der Veröffentlichung dieses ­neuerlichen wissenschaftlichen „Durchbruchs“ haben sich auch die Skeptiker zu Wort gemeldet: Ob das künstlich erzeugte Sperma tatsächlich so agil sei, seinen Job zu erledigen, also Kinder zu zeugen, fragte etwa der Androloge Allen Pacey. Die Reproduktionskünstler selbst verstehen ihre Arbeit dagegen als Dienst an der Menschheit. „Wir betreiben diese Forschung ja nur“, gibt sich Nayernia philanthropisch, „um unfruchtbaren Männern zu helfen, nicht um das Reproduktionsverfahren zu ersetzen“. Die Zuchtzellen sollen Aufschluss über den Einfluss von Giften ­geben und die Technik soll soweit entwickelt werden, dass unfruchtbare Männer ­mittelfristig zu ­eigenen Kindern ­kommen können.

Im Unterschied zu den Lebensmittel­imitaten ist das Verfahren für das Kunst-Sperma noch extrem kostspielig und keineswegs serienreif, von den ethischen Problemen einmal ganz abgesehen. Denn um das begehrte Sperma zu gewinnen, müsste man derzeit eine ­Zelle des ­Mannes entkernen, in eine Eizelle einsetzen und daraus einen ­Embryo züchten, der als Spermaspender dient und anschließend vernichtet wird. Die ­entsprechenden Experimente mit Mäusen waren nicht besonders ermutigend, denn der aus dem künstlichen Sperma gezeugte Mäusenachwuchs verendete bald. Ob sich irgendwann aus ­einer x-beliebigen reprogrammierten männlichen Körperzelle Keimzellen ­herstellen lassen, ist heute noch nicht absehbar.

Dass es eines technologisch aufwändigen Kunstprodukts bedarf, um den Wunsch nach einem ebenbildlichen ­Original zu befriedigen, gehört zu den Paradoxien menschlichen Daseins. Wenn der Same seinen Leib nicht bilden kann, wie die Bibel vorschreibt, muss ­Ersatz her. Goethe hat den Imitationstrieb als Natur des Menschen interpretiert, der Anthropologe Helmuth Plessner das ­Diktum geprägt, der Mensch sei „von ­Natur aus künstlich“. Was aber ist dann das „natürliche“ Original?

Zumindest, was die Lebensmittel des Menschen betrifft, dürfen wir annehmen, dass die „Natur“ der Dinge schon immer den menschlichen Bedürfnissen entsprechend zurecht gemacht wurde, und das Label „original“ nur Copyright-Interessen bedient. Der Erfinderschutz ist, wie uns die derzeitige Urheberrechts-Diskussion lehrt, ideologisch. Was in den Dingen steckt und in den ­Menschen, bleibt der Prüfung vorbehalten. Im Falle der Lebensmittelkontrolle ist das ein vergleichsweise einfaches ­Geschäft.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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