Der wunde Punkt

Umverteilung Die Corona-Krise zeigt, wie schlecht wir aufgestellt sind, wenn es um unsere Gesundheit geht. Der Markt richtet nichts
Ausgabe 14/2020
Der wunde Punkt

Illustration: der Freitag

Beifall allein genügt nicht! Botschaften dieser Art kursieren derzeit im Netz, sie erreichen Redaktionen, sind Gegenstand des öffentlichen Gesprächs. Als „blanken Hohn“, schreibt uns ein Pfleger, empfinde er das anerkennende Klatschen vom Balkon, und er drückt damit wohl das Gefühl vieler Ärzte, Pflegenden, von Laborpersonal und all den anderen aus, die nun plötzlich als systemrelevant gelten. Die spontane Anerkennung mag zwar kurzzeitig Genugtuung vermitteln, ändert aber nichts an der Lage der Betroffenen: „Zahlt nach der Krise ordentlich“, schreibt uns ein anderer Pfleger, „schafft die Bürokratie ab und bildet ausreichend Menschen aus.“

Was alle Debatten über Ärztemangel und Pflegenotstand der vergangenen Jahre nicht vermocht haben: Die Corona-Krise legt die neuralgischen Stellen im System der Daseinsvorsorge frei. Deren verschiedene Segmente – von der Energie- und Wasserversorgung über die Zustelldienste bis hin eben zum Gesundheitssystem – sind in den abgelaufenen beiden Jahrzehnten immer mehr ins Visier globaler Investmentstrategien geraten. Die Folgen im Bereich der Gesundheitsversorgung sind alle bekannt: Privatisierung, Kostendruck durch Fallpauschalen, Auslagerung von Diensten, Arbeitsintensivierung und schlechte Bezahlung auf der einen Seite, Klinikkonzentration und Abschöpfung der Gewinne auf der anderen.

Corona katapultiert aber auch ans Tageslicht, was sonst hinter den Mauern von Krankenhäusern und Pflegeheimen verschwindet und verdrängt wird: Einsamkeit, Siechtum und Sterben. Die in den Abendnachrichten schockartig vorgeführten Beatmungspatienten, die aus Pflegeheimen abtransportierten Särge, die zu Leichenhallen umfunktionierten Sportstätten: All das ruft Grauen hervor und Angst, die durch noch so eifriges Händewaschen nicht fortgeschrubbt werden kann.

Den Menschen wird durch Corona vor Augen geführt, dass der Staat seine Versorgungsaufgaben nicht mehr erfüllt, sondern nur noch auf individuelle Prävention und Überwachung setzt, wie die aktuelle Debatte um eine „freiwillige“ Corona-App zeigt. Alte Leute in Pflegeheimen, die die Distanzregeln nicht verstehen oder umsonst auf Angehörige warten, sagen, sie verstehen die Welt nicht mehr. Sie kennen noch eine Welt, in der es in jeder kleinen Stadt ein Krankenhaus gab, in der der Arzt Zeit hatte und keine „individuelle Gesundheitsleistung“ feilbot. Man mag das für nostalgisch halten, aber die Leute waren damit zufriedener als mit dem Gesundheitsmarkt heute.

Es dürfe nach der Krise nicht mehr so weitergehen wie davor, verkündete CDU-Wirtschaftsminister Peter Altmaier im Brustton der Überzeugung, um sofort die „Marktstärke“ Deutschlands ins Feld zu führen in der internationalen Konkurrenz um Atemmasken und -geräte. Was den Befund betrifft, hat der Mann recht: Nein, es darf und kann nicht so weitergehen! Deutschlands Marktmacht und Reichtum dürfen eben nicht den Verdrängungswettbewerb befeuern, sondern müssen eingesetzt werden, um anständige Arbeitsbedingungen in den Kliniken zu schaffen, die Beschäftigten – und nicht nur dort – vernünftig zu bezahlen und flächendeckend ausreichend mit Schutzmaterial und Ausstattung zu versorgen. Der Skandal, dass skrupellose Krisengewinnler Atemmasken zu horrenden Preisen verhökern, ist nur die Spitze des Eisbergs privatwirtschaftlicher Gewinnerzielung mit Gesundheit. Der Markt richtet gar nichts, außer den Wucher.

Wenn jetzt in der Krise teilweise die Fallpauschalen ausgesetzt werden, ist das ein erster Schritt. Das medizinische Personal sollte sich nicht mit Almosen wie steuerfreien Bonuszahlungen abspeisen lassen, die Beschäftigten in den Supermärkten darauf bestehen, ein fettes Stück von den Extragewinnen der Lebensmittelbranche abzubekommen. Wir benötigen kontrollierbare und verlässliche Produktionsstätten für medizinisches Material, Gerätschaften und Medikamente. Viel Angst würde von den Menschen genommen, wenn sie nicht fürchten müssten, dass für sie in ein, zwei Wochen kein Intensivbett und kein rettendes Atemgerät mehr da ist.

Wer das alles bezahlen soll? Sicher nicht die gesetzliche Krankenkasse, die spätestens mit Corona in heftige Turbulenzen geraten wird. Es braucht nicht etatistische, sondern politische Aufräumarbeiten, etwa die Abschaffung der Zweiklassenmedizin, die nun zwar völlig obsolet erscheint, aber fortbesteht. Wann, wenn nicht jetzt, läuten die Glocken für einen Systemwechsel, der im Gesundheitsbereich seinen Anfang nehmen und in eine generelle Umverteilungsoffensive münden könnte? Nur zehn Prozent des Vermögens der 130 reichsten Deutschen, hat die Bundestagsabgeordnete Hilde Mattheis (SPD) errechnet, brächten 50 Milliarden Euro für die Krisenbewältigung.

Klar ist das Populismus. Klar stehen die Gralshüter des Eigentums sofort Gewehr bei Fuß. Aber wie im Großen, in der EU, muss die Solidarität im Land, wenn schon nicht aus Einsicht, so doch aus Selbsterhaltungstrieb erwachsen. Wie hoch müssen die Opferzahlen sein, wie tödlich die Erschöpfung des medizinischen Personals, wie dramatisch die sozialen Verwerfungen, um das zu verstehen? Das Ansteckungsrisiko durch Corona wird verschwinden. Offen ist, ob sich die Gesellschaft anstecken lässt von der Infektion freiwilliger Selbstunterwerfung oder den Corona-Schock zum Anlass nimmt, die Karten neu zu verteilen.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin (FM)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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