Die Akte Wahrheit

Es gibt aber noch die Birthler-Behörde 2009 ist es endlich an der Zeit, über die Sieger der Einheit kritisch nachzudenken.

Zwanzig Jahre dauert der Sieg nun schon, und je länger er währt, desto schaler wird er: Gründe, an der Überlegenheit des Systems zu zweifeln, das 1989 über den ersten deutschen Arbeiter- und Bauernstaat triumphierte, gibt es zuhauf, und der Zweifel nagt selbst an hart gesottenen Verteidigern des Marktliberalismus. Im Gedenkjahr 2009 könnte man also mal zur Abwechslung einmal über die Sieger nachdenken, gäbe es da nicht die innere Demarkationslinie zwischen Tätern und Opfern (Ost), die die Erinnerung konturiert.

Vor einer Woche hat sich Kanzlerin Angela Merkel erstmals offiziell in die Birthler-Behörde verirrt, um sich von deren Chefin davon überzeugen zu lassen, dass es noch viele Jahre dauert, bis all die geschredderten Schnipsel zusammengeklebt sind und ihre Adressaten gefunden haben. Das Amt zur Verewigung des DDR-Unrechts ist bedroht, weil 2011 die Regelüberprüfung auf Stasi-Tätigkeit endet und es keine rechtsstaatlichen Gründe mehr gibt, die Akten offen zu halten. Selbst der einstige Bürgerrechtler und stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Union, Arnold Vaatz, hat sich kürzlich dafür ausgesprochen, das Stasi-Konvolut in absehbarer Zeit in den Bestand des Bundesarchivs zu überführen und es nach den üblichen Archivregeln eingeschränkt zu nutzen.

Die Akten der Staatssicherheit waren immer mehr als nur ein geschmacklich zweifelhaftes, makabres Überbleibsel der DDR. Von den Bürgerkomitees im Januar 1990 in einer Aufsehen erregenden Aktion in der Berliner Normannenstraße gerettet, mutierten sie im Laufe der Jahre zur DDR schlechthin, als ob das Essentielle des Landes in diesen zerfallenden 43 Papierkilometern aufbewahrt ist und in Feierstunden zitierfähige Ursache des historisch unausweichlichen Untergangs sein könnte.

Nur diese postum überhöhte Wahrnehmung rechtfertigt die eifernden Kommentare: Die DDR-Bürger würden "ihrer Wurzeln beraubt", ist zu lesen, wenn der Stasi-Bestand und die Behörde aufgelöst würden. Die Wurzeln von Menschen, sollte man meinen, liegen bei Eltern und Familien, im Geschmack einer Speise und im Duft einer Landschaft, im Erleben des guten oder schlechten Miteinanders. Vielleicht wird manch einer noch trüben Bodensatz in den Stasi-Konserven erschnüffeln; Kindheit und gelebte Erfahrung werden die Akten den Bürgern der DDR, die - wie Marianne Birthler bei dieser Gelegenheit einräumen musste - ohnehin höchstens zu zwei Prozent in den Stasi-Apparat verwickelt waren, nicht zurückbringen.

Als sich vor Jahresfrist anlässlich einer Gedenkveranstaltung der frühere Kulturminister der DDR, Dietmar Keller, öffentlich der "Feigheit" zieh, wurde das vom Publikum nur wenig honoriert. Die in der Nachfolge des Holocaust geschaffene "kriminalistische Erinnerung" feiert das "moralische Opfer" und verbannt den "Täter" in die Schweigezone. Es braucht Mediatoren, um zu differenzieren und abzuwägen, was wir in Erinnerung behalten und was wir, redend oder schweigend, vergessen sollten.

Die Gauck- respektive Birthler-Behörde hätte eine solche Mediatorenrolle übernehmen können, wäre sie nicht von Anfang an zum Spielball der tagespolitischen Interessen geworden. Wie professionell ihre Namensgeber die Behörde verwalten, wie viele Spitzel im Laufe der Zeit dort Unterschlupf gefunden haben mögen: geschenkt. Das Amt jedenfalls würde alle guten Erinnerungen und Erfahrungen der Wendezeit, alles Gute und Schlechte der Nachkriegszeit überleben, prophezeite Günter Gaus im Oktober 2000. Er hat Recht behalten in dem Sinne, dass es die Einrichtung noch immer gibt und die Kanzlerin weiterhin ihren Bestand garantiert.

Was an Erinnerung und Erfahrung überlebt, bestimmen aber nicht Behörden und Politik, sondern, gerade in einem solchen Gedenkjahr, die Nachlebenden.

Nur für kurze Zeit!

12 Monate lesen, nur 9 bezahlen

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

Freitag-Abo mit dem neuen Roman von Jakob Augstein Jetzt Ihr handsigniertes Exemplar sichern

Print

Erhalten Sie die Printausgabe zum rabattierten Preis inkl. dem Roman „Die Farbe des Feuers“.

Zur Print-Aktion

Digital

Lesen Sie den digitalen Freitag zum Vorteilspreis und entdecken Sie „Die Farbe des Feuers“.

Zur Digital-Aktion

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden