Die Altersarmut ist sicher

Rente Andrea Nahles hat sich von der Lebensleistungsrente für Geringverdiener verabschiedet
Ausgabe 45/2016

Im rentenpolitischen Drahtseilakt von Andrea Nahles ist viel von Haltelinien, Sicherungsseilen und Sicherheitsnetzen die Rede. Die Ministerin hatte sich hoch hinaufgeschwungen in die Berliner Kuppel und noch in dieser Legislaturperiode einzulösen versprochen, was im Koalitionsvertrag vereinbart worden war. Lebensleistung und langjährige Beitragszahlung, heißt es dort, müssen sich im Alter auszahlen, unter anderem indem Kleinrenten aufgestockt und die Ost- an die Westrenten angeglichen werden sollten.

Von der solidarischen Lebensleistungsrente hat sich Nahles nun endgültig verabschiedet. Das Projekt hätte dafür sorgen können, dass Geringverdienende einen gewissen Ausgleich dafür erhalten, dass sie ohnehin benachteiligt sind und sie ihr Alter nicht im freien Fall nach unten erleben müssen. Der Aufschrei, dies gefährde das die Rentenversicherung bestimmende Äquivalenzprinzip, nach dem sich die Rente nach den Beitragszahlungen bemisst, war nicht einmal besonders laut. Er kam aus der Ecke der Manege, in der sich gewöhnlich die arbeitgeberfreundlichen Dompteure sammeln.

Dabei war die anvisierte Lebensleistungsrente gar nicht so ehrgeizig, wie es den Anschein hat, denn sie sollte an viele Voraussetzungen gebunden werden, insbesondere an lange Beitragszeiten. Als die Ministerin sie Ende Oktober beerdigte, begründete sie dies damit, dass viele Kleinrentner keineswegs arm seien, sondern in Haushalten mit hohen Einkommen lebten.

Keine neue Neiddebatte

Damit aber stellt sie Rentner im Prinzip mit Empfängern von Hartz IV gleich: Nicht ihr individuelles Einkommen wird zugrunde gelegt, sondern das der sogenannten Bedarfsgemeinschaft. Statt das Rentenrecht zu individualisieren, um damit beispielsweise teilzeitarbeitende Frauen, aber eben auch kleine Selbstständige aus der absehbaren Armutszone zu holen, bleibt es bei der Subsidiarität. Auch Rentnerpaare sollen also, wenn ein Partner nur eine Minirente bezieht, künftig nicht auseinanderrennen.

Zuvor hatte Nahles schon ihrer SPD-Generalin Katarina Barley eine Absage erteilt, die angeregt hatte, die Beitragsbemessungsgrenze aufzuheben und dadurch mehr Geld in die Rentenkasse zu spülen. Daraus entstünden aber, so der Einwand, höhere Ansprüche und es verschiebe das Problem in die Zukunft. Etwas anders läge der Fall, wenn die Versicherungspflichtgrenze angehoben würde und einkommensstärkere Gruppen in die Rentenkasse einzahlen müssten. Die würden dann zwar auch höhere Bezüge erwarten dürfen, aber der Schritt hätte politische Signalwirkung: Er würde deutlich machen, dass nach und nach alle Bürger in die gesetzliche Rentenversicherung integriert werden sollen.

Doch daran denken im Bundestag nur wenige, insbesondere das Gros derjenigen nicht, die als Beamte auf großzügige Pensionen hoffen dürfen. 408 Milliarden Euro Rückstellungen waren 2014 für die Beamtenpensionen notwendig, und es werden jährlich mehr. Durchschnittlich 3000 Euro erhält ein Beamter im Ruhestand, das ist doppelt so viel wie ein Durchschnittsrentner und vier Mal so viel wie jemand, der auf Grundsicherung angewiesen ist. Auch wenn ein Pensionär Steuern und Krankenversicherung abführen muss, bleibt den meisten genug für ein gutes Leben. Die Kommunen und Länder dagegen haben ein Problem: Sie müssen die Aufwendungen für ihre künftigen Pensionäre zurückstellen. Der Stadtstaat Hamburg, der seine Haushaltsrechnung kürzlich von der kameralistischen auf die kaufmännische Buchführung umgestellt hat, weiß davon ein Lied zu singen. Plötzlich tauchen unter anderem auch Pensionsrückstellungen in der Bilanz auf, und statt eines satten Überschusses von 223 Millionen Euro muss der Kämmerer nun ein Defizit von 862 Millionen ausweisen.

Nein, es geht nicht um eine neue Neiddebatte, sondern um objektive Tatbestände, die ins Verhältnis gesetzt werden sollten gerade von denen, die das Äquivalenzprinzip hochhalten. Ist es äquivalent, also gerecht, dass sich die Beamtenpension nach dem letzten, in der Regel höchsten Einkommen bemisst, bei einem Arbeiter oder Angestellten aber das Durchschnittseinkommen seiner Erwerbsbiografie zählt? Ist es gerecht, dass Beamte aus ihrem Job gehen und 71 Prozent ihres Einkommens mitnehmen, alle anderen aber derzeit nur 48 Prozent? Und das Rentenniveau der Gesetzlichen, das ist gegenwärtig ein heißes Eisen, wird bis 2030 auf 43 Prozent sinken. Was danach passiert, ist völlig offen, deshalb will Nahles „anständige Haltelinien“ einziehen, am besten „doppelte“, denn jeder Prozentsatz beim Rentenniveau bedeutet, dass die aktiv Erwerbstätigen höhere Beiträge zahlen müssen. Das ist der Ansatzpunkt derer, die den Begriff Generationengerechtigkeit im Munde führen wie Wolfgang Schäubles Staatssekretär Jens Spahn, der völlig dagegen ist, noch einmal „milliardenschwere Wahlkampfgeschenke“ wie 2013 (Mütterrente, Rente mit 63) an die ältere Generation zu verteilen.

Diese Quadratur des Kreises aufzulösen, ist der Job von Andrea Nahles. Einer ihrer Kontrahenten, der Freiburger Rentenexperte Bernd Raffelhüschen, baut Drohszenarien auf: Er prognostiziert, dass auf künftige Arbeitnehmer und Arbeitgeber jeweils 26 Beitragsprozente zukommen. Die Wirtschaftsweisen übernehmen den Part der clownesken Animateure: Bei steigender Lebenserwartung und gutem Gesundheitszustand sei ein Renteneintrittsalter von 71 Jahren durchaus realistisch. Welche Konsequenzen das sinkende Rentenniveau aber konkret für diejenigen hat, die künftig in Rente gehen, hat das Institut für Arbeit und Qualifikation in einer niederschmetternden Grafik dargestellt. Ein Durchschnittsverdiener würde heute 28,4 Beitragsjahre benötigen, um auf ein Grundsicherungsniveau von derzeit 747 Euro zu kommen, im Jahr 2025 sind es bei einem Rentenniveau von 46 Prozent schon 29,5 Jahre, 2045 (Rentenniveau 41,6 Prozent) 33,4 Jahre. Und eine Verkäuferin, die nur 60 Prozent erhält? Sie müsste sogar 66,8 Jahre arbeiten, um 2045 auf eine Hungerrente von 747 Euro zu kommen.

Betriebliche Altersvorsorge

Also, „Haltelinien“. Konkrete Ergebnisse hat der Koalitionsgipfel bisher nicht gebracht. Einig ist sich Nahles mit ihrem Ministerkollegen Schäuble darüber, dass sich mehr Arbeitsnehmer über die betriebliche Altersversorgung absichern. Dafür soll es einen kräftigen Zuschuss von 30 Prozent für die Arbeitgeber geben, gleichzeitig wird deren Haftungspflicht aufgeweicht: Sie müssen künftig keine Mindestrentenleistung mehr garantieren.

Und dann gibt’s natürlich auch noch die in Verruf gekommene Riesterrente. Sparen sollen die, die ohnehin nichts haben, der Staat erhöht seinen Obolus. Und endlich soll auch ein gewisser Teil der Riesterrente bei der Grundsicherung nicht mehr angerechnet werden. Wahrscheinlich dürfen auch Erwerbsgeminderte auf eine geringfügige Verbesserung ihrer Lage hoffen.

Die Pläne für die kleinen Selbstständigen, für die ähnlich staatlich geförderte Rentenmodelle anstünden wie für Künstler oder Landwirte, hat Nahles noch nicht vorgestellt. Völlig in der Luft hängt aber das Projekt Ost-West-Rentenangleichung. Sie ist umstritten, weil die Höherbewertung der Ostrenten dann kassiert würde. Aber – noch – turnt Nahles in der Kuppel. Es gab schon Abstürze mit der Formel: „Die Rente ist sicher.“

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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