Corona Die Öffentlichkeit lechzt nach gesicherten Erkenntnissen. Doch die sind von der Wissenschaft nur selten zu haben. Missverständnisse sind unausweichlich
Als Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) Ende Februar vor der Presse erklärte, Deutschland befinde sich am Beginn einer Corona-Pandemie, und ankündigte, zusammen mit dem Robert-Koch-Institut einen Krisenstab einzurichten, ahnte noch niemand, dass damit die Stunde der Virologen geschlagen hatte. Niemand hätte sich vorstellen können, dass wir das ganze Jahr über frühmorgens mit Infektions- und Sterbefallstatistiken bombardiert oder komplizierte epidemiologische Parameter wie Inzidenz oder Reproduktionszahl in Leitartikeln behandelt werden würden und jede Talkrunde mindestens einen Vertreter der Seuchenerforschung oder -bekämpfung würde aufbieten müssen. Mehr als die Atomkatastrophe von Tschernobyl, als die Politik versuchte, missliebiges wiss
issenschaftliches Know-how über Fallout oder Halbwertzeiten zu unterdrücken, oder später Fukushima, als die Stunde der technischen Experten schlug, hat die Corona-Pandemie die experimentierende Wissenschaft aus ihrem akademischen Winkel geholt und ins Flutlicht der Öffentlichkeit gezerrt. Die aber spielt nach anderen Regeln, als sie in den wissenschaftlichen Communitys üblich sind.Keinen Monat nach Spahns Ankündigung saß Christian Drosten, der inzwischen zum Gesicht der Pandemie-Bekämpfung avanciert war, in der ZDF-Talkshow von Maybrit Illner. Neben dem Chef des Robert-Koch-Instituts, Lothar Wieler, war er binnen Wochen zum prominentesten Infektionsberater der Regierung avanciert. Der Verantwortung, die ihm das auferlegt hat, war er sich offenbar bewusst, denn er wählte seine Worte sorgfältig. Er wolle keine unbewiesenen Zahlen in die Welt setzen, sagte er, den weiteren Verlauf der Krankheit könne man nur in Projektionen abbilden. Und immer wieder wies er darauf hin, dass er nicht zu den Entscheidern gehöre, auch wenn jede seiner Aussagen scheinbar sofort in Maßnahmen mündet, die die Gesellschaft in ihrer Freiheit beschneiden.Es nützte nichts. Er wird dafür verantwortlich gemacht, wenn Kneipen oder Schulen geschlossen werden, man nicht mehr zum Feiern zusammenkommen kann und der individuelle Bewegungsradius eingeschränkt wird. „Man muss nicht immer Spaß haben“, erklärte Drosten bei Illner und hatte damit sein Label als blasse Laborspaßbremse weg.Wahr versus wahrscheinlichMit Projektionen, wie sie Drosten und seine Kollegen produzieren, können Politik und Öffentlichkeit allerdings wenig anfangen. Politiker brauchen Eindeutigkeit, um Maßnahmen zu begründen und gegenüber der Bevölkerung durchzusetzen, und diese wiederum lechzt nach gesicherten Erkenntnissen, um das Leben planbar zu machen. Doch die „Wahrheit“ über die Pandemie ist von der Wissenschaft nicht zu haben, weil sie im „Tal der Wahrscheinlichkeit“, wie John Locke es genannt hat, operiert. Objektiv ist sie höchstens im Hinblick auf ihre nachprüfbaren Methoden und Verfahren, doch ihre Aussagen und Resultate bleiben nur so lange gültig, bis sie widerlegt werden. Dies gilt umso mehr, als nun die ganze Welt zum Labor geworden ist und das Risiko nicht mehr eingegrenzt moduliert werden kann, weil die Extremausschläge unberechenbar geworden sind – nicht zuletzt auch durch ein unkalkulierbares Risikomanagement, wie es etwa in den USA vorherrscht.Gleichzeitig ist das Expertenwissen auch umstrittener geworden, weil es sich beim Coronavirus um ein neues Phänomen handelt, das in seinen Auswirkungen so komplex ist, dass es nicht den einen richtigen Weg im Umgang mit ihm gibt. Aus epidemiologischer Sicht müssten alle Menschen abgeschottet zu Hause bleiben und lückenlos überwacht werden. Dem stehen jedoch verfassungsrechtliche Grenzen und wirtschaftliche und soziale Hindernisse entgegen. Und zunehmend auch eine Gegenöffentlichkeit, die die Wissenslieferanten unter Druck setzt, mit alternativen Fakten, die fundiert sein, aber auch zu Verschwörungserzählungen mutieren können. Die anfangs widersprüchlichen Aussagen über die Wirksamkeit von Alltagsmasken, die wenig wissenschaftlich begründet waren, haben vorgeführt, wie schnell die Autorität wissenschaftlicher Expertise untergraben werden kann. Gerade weil sich die Politik vorwiegend auf das wenig verbreitete Wissen von Virologie und Epidemiologie stützt und andere Disziplinen, etwa die Sozialwissenschaften, vernachlässigt, entsteht der Eindruck von konkurrierendem Geheimwissen, der durch den Wettlauf um Aufmerksamkeitsgunst noch verstärkt wird. Man hat das erlebt zwischen Drosten, Alexander Kekulé und Hendrik Streeck – nicht zu reden von denen, die in zweiter Reihe nicht nachstehen wollen.Dass man dabei auch unter die Räder kommen kann, weil man mit den Regeln der medialen Öffentlichkeit nicht vertraut ist, hat das Beispiel Hendrik Streeck offenbart. Der Bonner Virologe hatte Zwischenergebnisse der sogenannten Heinsberg-Studie, noch bevor sie den Weg in den wissenschaftlichen Kreislauf fand, an die Öffentlichkeit gegeben und wichtige Daten erst später nachgeliefert. Offenbar vom Chef der nordrhein-westfälischen Regierung, Armin Laschet (CDU), extrem unter Druck gesetzt und schlecht beraten von einer Agentur, der es vor allem um Schlagzeilen ging, geriet Streeck in einen Kritikwirbel, der ihn zeitweise fast die Reputation kostete. Die Erfahrung, dass man als Galionsfigur in den Medien aufgebaut werden kann, um danach gestürzt zu werden, widerspricht den üblichen Gepflogenheiten in der Wissenschaft und dürfte für andere ein abschreckendes Beispiel gewesen sein. Nicht auszudenken, was der als Aufsteiger gefeierte Uğur Şahin zu erwarten hätte, wenn der Impfstoff von Biontech bislang unbekannte unerwünschte Nebenwirkungen hätte, weil er nicht lange genug getestet werden konnte.Ein Virologe in der TalkshowDenn Zeit ist ein wesentliches Moment in Zeiten der Pandemie. Der Erwartungsdruck, der auf der Wissenschaft lastet, widerspricht fundamental der longue durée profunder Forschungstätigkeit, für die die Impfstoff-Entwicklung ein prominentes Beispiel ist. Das langwierige kollegiale Gegenlesen, das Peer-Review, ist als Instrument wissenschaftlicher Qualitätssicherung in den Hintergrund gerückt, seitdem jeder seine Forschungsergebnisse auf Preprint-Servern veröffentlichen und von allen einsehen lassen kann. Auch sind die heutigen Protagonisten in den Talkrunden nicht dafür ausgebildet, schlagkräftige Botschaften zu produzieren oder sich gegen verzerrende Darstellungen zur Wehr zu setzen. Sie mögen die Folgen ihres wissenschaftlichen Tuns abschätzen können, mit Kommunikationsfolgenabschätzung sind sie wenig vertraut. Das betrifft übrigens auch die Effekte des wissenschaftlichen Alarmismus, die etwa Klimaforscher einholen, wenn die vorhergesagte Katastrophe noch nicht unmittelbar fühlbar ist.Es besteht also kein Zweifel, dass einige wenige wissenschaftliche Disziplinen in der Pandemie exklusive politische Definitionsmacht erlangt haben, die in früheren Zeiten nicht vorstellbar war. Das liegt nicht zuletzt auch an der journalistischen Praxis, sich ihre Verlautbarungen unhinterfragt zu eigen zu machen und in den Nachrichtenstrom einzuspeisen, als ob Herrn Drostens Hinweise und Vorschläge eine päpstliche Bulle wären. Dass er und all die Virologinnen und Epidemiologen nun allerdings dauerhafter das Ohr der Königin erreicht hätten als die üblichen Lobbyisten, dürfte schon dadurch widerlegt sein, dass die meisten politischen Entscheidungen nicht zuerst epidemiologischer Rationalität folgen, sondern den Bedürfnissen „systemrelevanter“ Wirtschaftssegmente. Denn selbst das Ziel, das medizinische System nicht zu überlasten und die Menschen möglichst gesund zu halten, korreliert mit der Nachfrage nach einsatzbereiten Arbeitskräften.Interessant in diesem Zusammenhang sind die Daten des aktuell erhobenen Wissenschaftsbarometers. Im April 2020 hatte die repräsentative Umfrage von „Wissenschaft im Dialog“ ergeben, dass noch 73 Prozent der Befragten großes oder halbwegs Vertrauen in die Wissenschaft haben, weit mehr als in den Jahren davor. Doch schon im Mai sank die Zustimmung wieder auf 66 Prozent, dagegen stieg der Anteil der Verunsicherten. Die Ergebnisse der vergangenen Donnerstag veröffentlichten Umfrage setzen diesen Trend fort: Nur 20 Prozent der 1.000 Befragten vertrauen der Wissenschaft "voll und ganz", 40 Prozent "eher". Die Umfragen dürfen als Gradmesser gelten für den Anteil der Bevölkerung, der von der offiziellen Wissenschaftskommunikation nicht mehr erreicht wird. Ob diese kritische Distanz auf aufgeklärte Skepsis oder einfach auf Ignoranz und Verblendung zurückzuführen ist, steht auf einem ganz anderen Blatt.
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