Die Macht der Überläufer

Novellierung des Stammzellgesetzes Die Abgeordneten sind zu einer grundsätzlichen Entscheidung aufgerufen - deckt das Grundgesetz Forschungsfreiheit und Heilung um jeden Preis?

An diesem Freitag wird im Deutschen Bundestag das vollzogen werden, was eigentlich der Normalfall in einer Demokratie sein sollte: Die Abgeordneten werden, frei von Fraktionszwängen und nur ihrem Gewissen verpflichtet, darüber zu entscheiden haben, ob das mit so viel Kompromissmühen 2002 auf den Weg gebrachte Stammzellgesetz erhalten bleibt oder ob der Stichtag für die Einfuhr embryonaler Stammzellen verschoben wird. "Einmalig", wie die Befürworter der Verschiebung betonen. Forschungsministerin Annette Schavan (CDU) ist da offener und räumt ein, dass niemand garantieren könne, dass es bei diesem einen Mal bleibt.

Veränderungsbedarf hatten die Stammzellforscher und ihre Lobby - die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) - bereits 2006 eingeklagt, mit der eindeutigen Aufforderung, den Stichtag ersatzlos zu streichen. Diese Position wird parlamentarisch vom Antrag von Ulrike Flach (FDP) getragen, der ebenso wenig Chance auf eine Mehrheit hat wie der Antrag des Christdemokraten Hubert Hüppe, der auf ein völliges Verbot der Forschung mit Embryonen zielt.

Zwischen der Gruppe um den SPD-Abgeordneten René Röspel, die den Wissenschaftlern mit der Verschiebung des Stichtags auf den 1. Mai 2007 entgegenkommen will, und den Unterstützern des Antrags von Priska Hinz (Bündnisgrüne), die im Wesentlichen alles beim Alten lassen wollen, gibt es einen verdeckten Wettstreit. Von den 612 Abgeordneten, war am vergangenen Montag zu hören, sind 183 noch unentschieden, und selbst bei den 430 Entschiedenen kann es noch "Überläufer" geben. Obwohl der Röspel-Antrag momentan die Nase vorne hat, könnte es im anstehenden Abstimmungsmarathon durchaus Überraschungen geben.

Nicht zuletzt deshalb, weil sich in den vergangenen Monaten die Begründungen so bezeichnend verschoben haben, dass die Forschung an Embryonen in ein immer zweifelhafteres Licht rückt. Während die DFG vor anderthalb Jahren noch von der "berechtigten Hoffnung" sprach, "embryonale Stammzellen in zunehmendem Maße als Basis für die Therapie heute noch nicht behandelbarer Krankheiten" einzusetzen, ist davon inzwischen aus forschungspraktischen Gründen kaum mehr die Rede.

In der Bundestagsanhörung im März konnten die einschlägigen Experten keinen einzigen Beweis erbringen, dass ihre Arbeit demnächst therapierelevant werden könnte. Deshalb verschanzten sie sich hinter der notwendigen Grundlagenforschung und "Zuarbeit" für diejenigen Kollegen, die an ethisch unbedenklichen adulten ("erwachsenen") Stammzellen arbeiten. Dazu jedoch, sagen diese, seien auch die bis 2002 hergestellten Stammzelllinien ausreichend. Und in der Tat sind die internationalen Erfolge des letzten Jahres auf Basis der alten Linien erzielt worden.

Mit der "Ethik des Heilens" aber versucht die parlamentarische Axt der Stammzellforscher das "bioethische Dickicht" in Deutschland zu lichten. Auf nichts anderes kann sich die eingeforderte Forschungsfreiheit ethisch berufen als auf den selbstlosen Dienst an sterbenskranken Patienten. Denn nur die "Hochrangigkeit" der Forschungsziele, so definiert es das Stammzellgesetz, legitimiere überhaupt die Forschung an embryonalen Stammzellen und den Verbrauch menschlicher Eizellen. Toxikologische Testprogramme, die ebenfalls im Rahmen der embryonalen Stammzellforschung entwickelt und kommerzialisiert werden, fallen mit Sicherheit nicht unter diese Kategorie.

Soll also dennoch "jeder mit seinen Stammzellen glücklich werden", wie Stammzellforscher Hans Schöler in der Anhörung hemdsärmelig forderte? Wird sich eine parlamentarische Mehrheit für einen mit der Verschiebung absehbaren "fliegenden Stichtag" finden, den sich Jochen Taupitz, Jurist und Mitglied des Nationalen Ethikrates, wünscht? Ausgerechnet der FDP-Dissident Michael Goldmann, der den Hinz-Antrag mitträgt, gibt liberalen Wissenschaftsjüngern auf den Weg, dass Forschungsfreiheit kein unbegrenztes Grundrecht ist und es auch keinen Anspruch auf Heilung gibt, die zu Lasten Dritter geht.

siehe auch Interview auf Seite 18

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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