Gerlinde saß zwei Reihen vor mir in der Klasse. So hatte ich immer gut im Blick, wie sie mit ihrem Füllhalter zurechtkam, den sie zwischen die Zehen ihres rechten Fußes geklemmt hatte. Hände hatte sie nicht, ihre Arme waren zu Stummeln verkürzt, deshalb saß sie im Sportunterricht auf der Bank. Dabei bewunderten viele von uns Gerlindes Gelenkigkeit, die selbstverständliche Art, wie sie mit ihrem Handicap umging. Eines Tages tauchte sie dann nicht mehr auf, ihre Eltern hatten sie von der Schule genommen. Es sei zu anstrengend für sie geworden, erfuhren wir.
Endlich eine Entschuldigung
Was aus Gerlinde, dem „Contergan-Kind“, wie man es damals nannte, geworden ist, weiß ich nicht. Aber Kinder ohne oder mit verkürzten Gliedmaßen, mit Seh- oder Hörschäden und Schädigungen der inneren Organe gehörten in meinen Jahrgängen zur traurigen Normalität. Traurig, weil sich das Schicksal der geschätzt 5.000 bis 10.000 betroffenen Kinder weltweit zumindest teilweise hätte vermeiden lassen, wenn es in der Bundesrepublik ein Arzneimittelrecht gegeben hätte, das diesenNamen verdiente, oder der Hersteller Grünenthal das Beruhigungsmittel, das damals insbesondere schwangeren Frauen empfohlen wurde, schnell vom Markt genommen hätte, nachdem es erste Anzeichen gab, dass der Wirkstoff Thalidomid Fehlbildungen hervorruft.
Vielleicht ist Gerlinde eine der heute noch lebenden 2.400 Contergan-Geschädigten in Deutschland, deren Eltern nach einer zähen gerichtlichen Auseinandersetzung, die in einem ungerechten Vergleich endete, eine lächerliche Entschädigung zugesprochen bekamen und später eine kleine Rente, die erst nach der Änderung des Conterganstiftungsgesetzes 2013 spürbar erhöht wurde. Vielleicht hat sie, nun jenseits der 50, mit dem gesundheitlichen Verschleiß durch die besondere Beanspruchung ihrer Gelenke zu kämpfen. Vielleicht ist sie auch eine der verärgerten Betroffenen, die jahrelang auf eine Entschuldigung der Verantwortlichen gewartet haben und die immer wieder bürokratische Hürden und Willkür überwinden müssen, wenn sie für ihre besonderen Bedarfe einen Antrag bei der Conterganstiftung stellen.
Nun endlich hat sich die nordrhein-westfälische Gesundheitsministerin Barbara Steffens (Grüne) zu einer Entschuldigung durchgerungen. Ihr Land, sagte sie vor Betroffenen in Düsseldorf, hätte damals mutiger, hartnäckiger und schneller handeln müssen. Anlass war die Vorstellung einer Forschungsarbeit, die die Rolle des Landes Nordrhein-Westfalen unter die Lupe nahm, wo ab 1968 der Contergan-Prozess gegen das in Stolberg bei Aachen ansässige Unternehmen stattfand.
Die 700-Seiten-Studie kommt zu dem Ergebnis, dass sich die zuständigen Behörden zwar nicht rechtswidrig verhalten hätten, dass diese jedoch von der Tragweite des Skandals überfordert gewesen seien. Konstatiert wird die „strukturelle Unterlegenheit“ gegenüber dem Unternehmen Grünenthal, das die damalige juristische Elite auf seiner Seite hatte. Ein mangelhaftes Arzneimittelrecht und eine gezielte Desinformations- und Verschleppungspolitik hätten dazu beigetragen, dass Contergan über vier Jahre, nämlich bis zum 27. November 1961, auf dem Markt blieb.
Wie wenig die Bundesrepublik bereit war, sich mit dem Contergan-Skandal auseinanderzusetzen, wird daran deutlich, dass es noch einmal 15 Jahre dauerte, bis die Vorlage des bis heute 15 Mal geänderten Arzneimittelgesetzes zur Abstimmung in den Bundestag kam. Die DDR zeigte sich lernfähiger. Obwohl sie vom Contergan-Skandal gar nicht direkt betroffen war, weil sie auf die Nutzung von Thalidomid verzichtete, half ihr der Blick in den Westen auf die Sprünge. 1961 brachte sie ein vergleichsweise restriktives Arzneimittelgesetz auf den Weg.
Den Menschen, die lebenslang mit den Folgen von Contergan leben müssen, geht es nicht nur um moralische Verantwortung, sondern auch um die Befriedigung ihrer besonderen, mit dem Alter zunehmenden Bedarfe. Immer wieder kommt es wie dieser Tage zu gerichtlichen Auseinandersetzungen zwischen Betroffenen und der Conterganstiftung, die für die Bewilligung von Hilfsmitteln zuständig ist. Die Stiftung, die aus dem gerichtlichen Vergleich zwischen Grünenthal und den Eltern hervorgegangen ist, zahlt seit 1972 die Renten der Contergan-Geschädigten aus und bewilligt auf Antrag besondere Leistungen.
Doch was sind „besondere Bedarfe“? Zählt dazu auch ein Boxspringbett, das die schwerstbehinderte Marion Gottreich beantragte? Die Stiftung, die jährlich 30 Millionen Euro aus Bundesmitteln verteilen kann, verneint das, es kam zum Prozess. Viele Contergan-Opfer scheuen aber den bürokratischen Aufwand oder verzichten darauf, weil sie eine Ablehnung fürchten. Deshalb kamen zuletzt nur noch 1,8 bis 2,5 Millionen Euro bei den Betroffenen an.
Ein Gutachten, das Mittelvergabe und Verfahrensabläufe der Conterganstiftung beurteilt, kommt zu dem Ergebnis, dass „eklatante rechtliche und organisatorische Hindernisse“ einer effektiven Gewährung von Leistungen im Wege ständen. Die Definition des Begriffs „spezifische Bedarfe“ sei „verunglückt“, die Entscheidungen erschienen willkürlich. Zudem sei die Stiftung viel zu sehr an die Weisungen des Familienministeriums gebunden.
Eine „vergiftete“ Atmosphäre
Die Dominanz des Ministeriums, dessen Vertreter auch dem fünfköpfigen Stiftungsrat vorsitzt, dürfte einer der Gründe sein, weshalb die Atmosphäre dort als „vergiftet“ gilt. Es werde dauernd über die Köpfe der Betroffenen hinweg entschieden, klagt Andreas Meyer, der die Geschädigten im Rat vertritt. Der Linken-Abgeordnete Ilja Seifert spricht von „abgrundtiefem Misstrauen“.
Nun hat die Bundesregierung auf den ersten Bericht nach dem Conterganänderungsgesetz reagiert und plant, Contergan-Opfer entsprechend ihrer Schädigung pauschal und ohne Bewilligungsverfahren zu entschädigen. Allerdings fürchtet der Bund Contergangeschädigter und Grünenthalopfer, dass sich damit gleichzeitig die Höhe der möglichen Leistung verringert. Das betrifft insbesondere diejenigen mit geringer Schadenpunktzahl, deren Folgeschäden mitunter aber sehr massiv sind.
Freigekauft hat sich indes Grünenthal mit lächerlichen 114 Millionen Mark 1972 und noch 50 Millionen Euro im Jahr 2009. Eigentlich wäre es an dem Unternehmen, nicht nur moralisch, sondern auch materiell die Verantwortung zu übernehmen. Für Boxspringbetten, aber vor allem für die Forschung über Spätschäden.
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