Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer, sagt der Volksmund, und eine „Lerche“ oder „Eule“ beschreibt das Schlafverhalten. Das aufflammende langwährende Licht im Sommer strukturiert den Tag-Nacht-Rhythmus, sowohl für die drei Vögel als auch für uns Menschen – aber vor allem bestimmt unsere „innere Uhr“ darüber, ob wir morgens um sechs hellwach aus dem Bett springen und zwitschern oder bis ultimo den letzten Krimi mit einem „Uhuu“ begleiten. Ungefähr zwei Fünftel aller Menschen sind einem solchen Takt unterworfen, alle anderen gehören zu Mischtypen, die sich dazwischen bewegen. Je nachdem.
Chronobiologie nennt man die Wissenschaft, die sich mit dem menschlichen Wach- und Schlafrhythmus befasst. Und „je nachdem“ bedeutet, dass es sich Menschen oft gar nicht aussuchen können, zu welcher Kategorie sie gehören. Medizinisches Personal im Dreischichtsystem, das während der Pandemie unter besonderen Belastungen steht, Servicearbeiter:innen bei Transport-, Energie- oder Kommunikationsunternehmen und viele andere haben keine Wahl. Die Konti-Schicht in der Schwerindustrie, im vergangenen Jahrhundert noch ein heftig umkämpftes Terrain des Arbeitskampfes, ist abgelöst worden von unübersehbar flexibilisierten Arbeitszeitmodellen, rund um die Uhr. Die Schicht- und Nachtarbeit hat nicht etwa abgenommen, wie vorausgesagt, sondern nimmt zu. Die neuen Nachtarbeiter:innen können aber nicht wie früher auf Rahmentarifverträge oder starke Gewerkschaften vertrauen, insbesondere in der Dienstleistung und Logistik ist ihre Arbeit oft prekärer als früher.
Früh, Früh, Spät, Spät, Nacht
Dass der Mensch zwar tagaktiv, der Schlaf aber nachtaktiv sein Wesen in ihm treibt, ist seit dem Begründer der Schlafforschung, dem Neurologen und Psychiater Hans Berger, bekannt. Der in das nationalsozialistische Forschungsunwesen verstrickte Alois Kornmüller vom Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung experimentierte unter anderem mit Koffein, um Soldaten in der Luft unbegrenzt wach zu halten. Mit Hilfe des Enzephalogramms sind heutzutage Gehirnströme messbar, Schlafphasen bestimmbar und die Auswirkungen von vorenthaltenem Schlaf diagnostizierbar. Und es gab bis in jüngste Zeit nie einen Zweifel: Nachtarbeit ist gefährlich und macht krank.
Wer dauerhaft gegen seine innere Uhr agiert, den Tag-Nacht-Rhythmus ignorieren muss und vom Kitt sozialer Begegnungen abgeschnitten ist, bekommt Probleme. Der Körper kann sich nicht ausreichend erholen, die Psyche nicht stabilisieren. Nachtarbeiter:innen, oft ohnehin belastet durch repetitive Arbeit und unkontrollierbare Arbeitsbedingungen, leiden an der Desynchronisation von Organismus, Arbeit und sozialem Leben. Bis zu 90 Prozent berichten in verschiedensten Studien über Schlafstörungen. Der Tagschlaf, von äußeren Faktoren wie Licht, Lärm oder anderen Einflüssen beeinträchtigt, ist flacher, kürzer und weniger erholsam, wobei Frauen in zunehmendem Alter stärker von Schlaflosigkeit heimgesucht werden als Männer. Gerade Alleinerziehende, die sich tagsüber um Kinder kümmern müssen, oder Eltern, die deshalb im versetzten Schichtsystem arbeiten, sind davon betroffen.
Nachtarbeit ist aber auch gefährlich. In der Nacht liegt das Unfallrisiko um etwa 30 Prozent höher als am Tag und steigt mit jeder Schicht exponentiell an, in der vierten Nacht ist es 3,5 Mal höher als zu Beginn des Wechsels.
Wer (zu) lange im Schichtdienst arbeitet, gefährdet nicht nur andere, sondern langfristig auch sich selbst. Wer länger als drei Nächte hintereinander arbeitet, hat größere Probleme, sich wieder auf einen normalen Tag-Nacht-Rhythmus einzustellen. Deshalb plädieren Arbeitsforscher dafür, auch in Sektoren, in der Nachtarbeit unerlässlich ist, nie mehr als drei Schichten am Stück arbeiten zu lassen, und zwar in kurzen Wechseln, etwa Früh, Früh, Spät, Spät, Nacht, mit anschließend mindestens zwei bis drei freien Tagen. Das gewährleistet nicht nur Erholung, sondern auch die Teilnahme an sozialen Aktivitäten. Der Experte Frank Brenscheidt vom Bundesamt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin empfiehlt sogar ein System von vier Schichten und verkürzte Wochenarbeitszeiten.
Krebsrisiko ist umstritten
Die mit der Nachtarbeit verbundenen Schlafdefizite befördern zudem Depressionen und Angststörungen. Weit verbreitet unter Schichtarbeitern sind auch Erkrankungen des Magen-Darm-Trakts, weil nachts situationsbedingt nicht gesund gegessen und schlecht verdaut wird. Ob Schichtarbeitende auch ein erhöhtes Krebsrisiko in Kauf nehmen, ist umstritten, plausibel scheint jedoch der Einfluss von Nachtarbeit auf die Entstehung von Brustkrebs. Riskant ist hier der Mangel des Schlafhormons Melatonin.
Diesen und weiteren einschlägigen Befunden begegnete jedoch eine 2019 vom Institut für angewandte Arbeitswissenschaft (ifaa) publizierte Zusammenfassung neuerer Studien. Ihr Fokus liegt ebenfalls auf den Chronotypen und deren unterschiedlicher Toleranz gegenüber Schicht- und Nachtarbeit. Zitiert wird etwa eine Untersuchung aus Schweden, nach der Schlafmangel am Wochenende ausgleichbar sei und Schichtarbeit „nicht per se eine Risikoerhöhung“ darstelle. Lichtoptimierung und intelligente Arbeitsplatzgestaltung könnten einen entlastenden Beitrag leisten.
Unter Beschuss steht auch die gesetzliche Ruhezeit von elf Stunden, etwa, wenn die Arbeit es erfordere, abends „freiwillig“ E-Mails zu bearbeiten. Das ifaa ist eine Einrichtung der Metall- und Elektroindustrie, deren Beschäftigte, so wird verlautbart, durchaus auch bereit seien, täglich länger als acht Stunden zu arbeiten. Natürlich selbstbestimmt, denn die Anpassungsfähigkeit des freien Menschen ist unbegrenzt.
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