Es bleibt in der Familie

Pflegereform Endlich sollen auch Demenzkranke besser versorgt werden. Der große Wurf ist das Gesetz dennoch nicht geworden
Ausgabe 50/2016

Es ist einer der inhumansten Begriffe, den die Sozialpolitik hervorgebracht hat: Minutenpflege. Er machte aus hilfebedürftigen Menschen Objekte, die im Minutentakt versorgt werden müssen, und aus Pflegenden Maschinen, die in gegebener Zeit eine bestimmte Menschenstückzahl zu absolvieren hatten. Mit dem Inkrafttreten der beiden Pflegestärkungsgesetze (PSG II und III) am 1. Januar 2017 soll damit Schluss sein. Dann haben, angefangen mit Ulla Schmidt, sage und schreibe vier Gesundheitsminister acht Jahre gebraucht, um einen neuen, angemesseneren Pflegebedürftigkeitsbegriff in der deutschen Sozialgesetzgebung zu verankern.

Bei der künftigen Begutachtung durch den Medizinischen Dienst wird es also nicht mehr darum gehen, wie viel Hilfebedarf ein Mensch beim Waschen und Anziehen, beim Toilettengang oder Essen und Trinken hat, sondern es wird umgekehrt der Grad seiner Selbstständigkeit festgestellt, also die Möglichkeiten, die jemand hat, seinen Alltag zu bewältigen. Außer den bisher bereits berücksichtigten Aspekten wie Mobilität, Körperpflege und Ernährung und Hilfebedarf im Umgang mit Krankheiten beurteilen die Gutachter nun auch kognitive und kommunikative Fähigkeiten – kann sich der Betreffende zeitlich und räumlich orientieren? Wie verlässlich ist sein Erinnerungsvermögen? Wie hoch seine Entscheidungskompetenz? –, ebenso wie psychische Problemlagen (Angstzustände, aggressives Verhalten) und die Fähigkeit, Alltagsleben und soziale Kontakte zu gestalten. Damit finden, wie lange gefordert, die 1,5 Millionen Demenzkranken adäquate Berücksichtigung.

Abgefragt werden in diesen fünf Bereichen insgesamt 64 Kriterien. Für jeden Bereich ermittelt der Gutachter eine Punktzahl. Zusammengerechnet ergeben sie den Grad der Pflegebedürftigkeit, der nicht mehr wie heute in drei, sondern ab sofort in fünf Stufen abgebildet wird: Von der geringen Beeinträchtigung der Selbstständigkeit (ab 12,5 Punkte) über die schwere Beeinträchtigung (47,5 – 70 Punkte) bis hin zu schwerster Beeinträchtigung (90 – 100 Punkte).

Der Grad der Selbstständigkeit

Ein Beispiel: Frau Müller ist 72 Jahre alt, wohnt alleine und ihr Allgemeinzustand ist ihrem Alter entsprechend gut. Inzwischen zeigen sich jedoch Zeichen einer Demenz, sie versteht nur noch einfache Fragen und Antworten. Außerdem ist sie inkontinent und leidet unter Venenschwäche. Ihre Tochter unterstützt sie mit Mahlzeiten und hilft im Haushalt. Frau Müller ist durchaus noch mobil, aber das Erinnern fällt ihr schwer, und in neuen Situationen findet sie sich nicht zurecht. Nachts ist sie unruhig und sucht nach ihrem verstorbenen Mann. Ihre Körperpflege kann sie weitgehend noch selbst erledigen, nur beim Anziehen der Kompressionsstrümpfe und bei der Medikamentengabe benötigt sie Hilfe. Und weil sie immer wieder ihr Gedächtnis im Stich lässt, muss sie im Alltag – im Kontakt mit anderen Menschen oder indem sie daran erinnert wird, schlafen zu gehen – unterstützt werden.

Früher hätte Frau Müller möglicherweise nur geringe Leistungen aus der Pflegekasse erhalten, weil ihre Einschränkungen vor allem auf ihre beginnende Demenz zurückgehen. Nach den neuen Begutachtungsrichtlinien kommt sie auf einen Punktwert von 48,75 und würde damit in Pflegegrad 3 (eingeschränkte Alltagskompetenz) eingestuft. Es geht darum, sie so zu unterstützen, dass sie möglichst lange selbstständig bleiben kann. Ab 1. Januar würde sie demnach 545 Euro Pflegegeld erhalten oder Pflegesachleistungen im Wert von 1.298 Euro. Müsste sie vollstationär aufgenommen werden, würde die Pflegekasse 1.262 Euro zuschießen.

Mit 500.000 neuen Anspruchsberechtigten wird ab 2017 gerechnet, 300 neue Gutachter sollen eingestellt werden. Und von den bisherigen Leistungsbeziehern, erklärt Wolfgang Rücker vom Spitzenverband der Krankenkassen, werde bei der automatischen Überleitung niemand schlechter gestellt. Im Gegenteil können ambulant versorgte Pflegebedürftige insbesondere in den Pflegegraden 2 bis 4 mit höheren Leistungen rechnen: Die Differenz kann bis zu 609 Euro betragen. Deutlich wird der Wille des Gesetzgebers, die ambulante Pflege zu stärken – nicht unbedingt zum Vorteil der in stationären Einrichtungen lebenden Menschen.

Denn in den unteren Pflegegraden wird der Zuschuss der Pflegekasse zur stationären Versorgung teilweise sogar gekürzt. Das heißt, für Menschen, die nicht in hohem Maße beeinträchtigt sind, wird es künftig schwieriger werden, überhaupt einen Heimplatz zu bekommen. Für die Einrichtungen wiederum bedeutet das, dass der bestehende, ohnehin angespannte Pflegeschlüssel – also das Verhältnis von Personalstellen zu den zu pflegenden Personen – kippt, wenn vor allem Menschen mit hohem Pflegeaufwand versorgt werden müssen. Stellvertretend für andere Sozialverbände rechnet die Volkssolidarität „mit schwerwiegenden negativen Folgen“. Die Bundesinteressenvertretung für alte und pflegebedürftige Menschen befürchtet, dass Heime nur noch „hauptsächlich von Schwerstpflegebedürftigen aufgesucht werden“.

Aber auch auf der anderen Seite der Skala gibt es Verlierer. Menschen mit geringer Beeinträchtigung, die in Pflegegrad 1 eingestuft werden – das sind rund 200.000 Menschen –, erhalten künftig nämlich keinerlei Leistungen im Rahmen der Hilfe zur Pflege mehr, sondern nur noch Beratung und gewisse Pflegehilfsmittel. Das betrifft insbesondere auch nicht versicherte Sozialhilfeempfänger. Und durch den nun gesetzlich verankerten Vorrang von Pflegeleistungen (im häuslichen Umfeld) vor der Eingliederungshilfe – also Leistungen, die die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen sollen – ergeben sich erhebliche Nachteile für Menschen mit Behinderung. Die inzwischen als Vorsitzende der Lebenshilfe aktive einstige Gesundheitsministerin Ulla Schmidt rechnet vor, dass Betroffene, die in einer ambulanten Wohngemeinschaft leben, bislang 1.612 Euro erhalten haben, die Pflegeversicherung aber nur noch 266 Euro bezahlt. Die Situation von Menschen mit erheblichem Unterstützungsbedarf verschlechtert sich dadurch erheblich. Der Paritätische Wohlfahrtsverband lehnt diese Vorrangstellung deshalb entschieden ab: Pflegeleistungen und Leistungen der Eingliederungshilfe seien in ihrer Zielsetzung wesensverschieden und dürften nicht in ein Konkurrenzverhältnis gebracht werden.

Zu einer großen Reform und Vereinheitlichung der einschlägigen Sozialgesetzbücher konnte sich Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) ohnehin nicht durchringen. Und mit der gewollten Stärkung der ambulanten Pflege bleibt die Hauptlast weiterhin bei den Angehörigen hängen, auch wenn sie etwas besser honoriert und rentenversichert werden, wenn sie zehn statt vorher 14 Stunden wöchentlich pflegen. Ein verbessertes Beratungsnetz und die Vernetzung von kommunalen und kasseninitiierten Pflegeangeboten sollen die Betroffenen zudem unterstützen.

Dem „Pflegenotstand“ haben die beiden Pflegestärkungsgesetze ohnehin nur wenig entgegenzusetzen. Denn die Reform der Pflegeberufe, die in gemeinsamen Ausbildungswegen münden sollte, wird gerade wieder einmal von den Unionsparteien im Bundestag torpediert. Und egal ob man Krankenschwestern und Altenpfleger nun gemeinsam oder getrennt ausbildet: Nachwuchs wird es in beiden Bereichen nur geben, wenn die Gesellschaft bereit ist, ihn angemessen zu bezahlen. Man darf gespannt sein, wie viele Gesundheitsminister noch ins Land gehen, bis diese Erkenntnis endlich reift.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin (FM)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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