Schon im März 2020 startete ein deutsch-amerikanisches Forschungsprojekt, das die internationalen Auswirkungen von COVID-19 auf das Geschlechterverhältnis fokussiert und Modelle langfristiger Effekte entwirft. Eine der beteiligten Forscherinnen ist die Wirtschaftswissenschaftlerin Michèle Tertilt, 2019 für ihre Arbeit an der Schnittstelle von Makroökonomie, Entwicklungsökonomie und Familienökonomie mit dem Leibniz-Preis ausgezeichnet.
der Freitag: Frau Tertilt, Corona hat über Monate hinweg eine Vielzahl von Männern ins Homeoffice katapultiert, die nun ohne Rückgriff auf Großeltern und andere Unterstützende mit ihrem Nachwuchs zusammengesperrt waren und sind, während die Frauen oftmals ihren „systemrelevanten“ Care-Berufen nachgehen. Erleben wir gerade eine kleine Gender-Revolution?
Michèle Tertilt: Auch diese Medaille hat zwei Seiten. Zunächst: 25 Prozent aller Erwerbstätigen in Deutschland haben Kinder unter 14 Jahren, acht Prozent unter sechs Jahren. Um die Familien zu managen, muss irgendwer zu Hause bleiben, und wir sehen, dass Frauen ihre Erwerbsarbeit öfter und um mehr Stunden reduzieren als Männer. Es gibt aber auch jene Familien, in denen die Frauen sozusagen „an der Front“ arbeiten, in der Pflege oder im Laden, und plötzlich der Vater zu Hause vollzeitverantwortlich ist. Wir hatten erwartet, dass das etwa zehn Prozent aller erwerbstätigen Paare mit Kindern betrifft. Studien in Deutschland kommen aber zu dem Ergebnis, dass 20 Prozent der Väter sagen, sie seien alleinverantwortlich. Vielleicht ist das Ihre „Gender-Revolution“.
Angesichts der Zahlen also eher ein Revolutionswitz. Bleiben wir aber zunächst bei den Arbeitsmärkten. Wie wirkt sich die Corona-Krise unter genderpolitischen Aspekten aus?
In normalen zyklischen Konjunkturkrisen verlieren wesentlich mehr Männer ihre Jobs als Frauen. Das betrifft dann vor allem das Baugewerbe und die Fertigungsindustrie. In der aktuellen Krise ist das – weltweit gesehen – ganz anders, jetzt fallen viel mehr Frauen aus dem Arbeitsmarkt, weil ganz andere Sektoren betroffen sind, zum Beispiel das von Frauen dominierte Dienstleistungsgewerbe, die Gastronomie, der Tourismus oder der Handel. In Deutschland wird das durch die Kurzarbeiterregelung abgefedert, aber in anderen Ländern ist die Arbeitslosenquote in die Höhe geschossen. Um das mal konkret an den USA festzumachen: In der letzten Finanzkrise lag die Arbeitslosigkeit bei Männern um drei Prozent höher als bei Frauen, in der aktuellen sind wir jetzt schon bei 16,2 Prozent für Frauen im Vergleich zu einer Arbeitslosigkeit von 13,5 Prozent bei Männern.
Wurden in den zyklischen Krisen des 20. Jahrhunderts nicht aber immer Frauen zuerst zurück ins Haus verbannt?
Das bestätigen unsere Daten nicht, denn normalerweise arbeiten Frauen, wie gesagt, in weniger krisenanfälligen Sektoren. Und in konjunkturellen Krisen ist es oft auch so, dass Frauen einspringen, wenn die Männer ihren Job verlieren, sie verhalten sich also eher antizyklisch. Womit Sie aber recht haben: Wenn man früher die Bevölkerung fragte, sagte die Mehrheit, dass es wichtiger sei, dass Männer ihre Jobs behalten. Das hat sich in den letzten Jahrzehnten allerdings sehr verändert.
Gleichzeitig erleben wir derzeit eine symbolische Aufwertung der Care-Arbeit.
Ja, alle klatschen für den Einsatz des Pflegepersonals. Eine tatsächliche Aufwertung müsste aber finanziell begleitet sein. Aber auch das regelt sich nach Angebot und Nachfrage, und es gibt immer noch zu viele Frauen, die bereit sind, in diesem Sektor für ein geringeres Gehalt zu arbeiten. Hinzu kommt, dass es einen richtigen „Pflegemarkt“ gar nicht gibt, es ist vor allem der Staat, der Pflegekräfte nachfragt und die Löhne bestimmt. Ob das Gehalt von Pflegepersonal steigen wird, ist daher vor allem eine politische Frage.
Glauben Sie, dass die Krise zur Aufwertung der unbezahlten Care-Arbeit beiträgt?
Unter den Eltern, die derzeit im Homeoffice arbeiten, sind nach aktuellen Erhebungen Frauen gut sechs Stunden am Tag zusätzlich damit beschäftigt, auf Kinder aufzupassen oder Lehrer-Ersatz zu spielen, bei Männern sind es 4,7 Stunden. Nur: Die machen das normalerweise ja gar nicht. In anderen Zusammenhängen lässt sich aber nachweisen, dass selbst kurzfristige Veränderungen langfristige Effekte haben. Ein vielerforschtes Beispiel ist der Zweite Weltkrieg, der dazu geführt hat, dass Frauen Männerjobs übernommen haben. Viele sind nach der Rückkehr der Männer dennoch in ihren Jobs geblieben. Ein jüngeres Beispiel sind die Vätermonate im Rahmen der Elternzeit. Diverse Studien zeigen, dass sich das positiv auf das generelle Engagement der Väter in den Familien ausgewirkt hat. Deshalb gehe ich davon aus, dass auch die Corona-Krise einen langfristigen gesellschaftlichen Wandel hervorbringt.
Zur Person
Michèle Tertilt, 48, ist Professorin für Makro- und Entwicklungsökonomie an der Universität Mannheim und hat als erste Frau den Gossen-Preis des Vereins für Socialpolitik verliehen bekommen. Sie ist Mitautorin der Studie „The Impact of Covid-19 on Gender Equality“.
Andere Wissenschaftlerinnen wie Jutta Allmendinger erwarten eher einen Backlash und zunehmende genderspezifische Ungleichheit. Fällt unsere Gesellschaft zurück in die 1950er Jahre?
Es gibt mehrere Effekte, und welche überwiegen werden, bleibt abzuwarten. Der Haupteffekt, den Jutta Allmendinger meint, ist, dass Frauen momentan mehr zurückstecken, weil sie ohnehin weniger verdienen oder Teilzeit arbeiten. Das hat natürlich negative Auswirkungen auf ihre Karrierechancen, Rentenanwartschaften und vieles mehr, das lässt sich nicht so schnell wieder aufholen. Die Gender Wage Gap, die Einkommensschere, wird mittelfristig zunehmen. Es gibt aber noch zwei weitere Effekte, die sich zum Vorteil der Frauen auswirken könnten. Zum einen sind Telearbeit und Homeoffice nun hoffähig geworden, davon profitieren Frauen mit Kindern. Außerdem sehen Arbeitgeber, dass auch Männer Kinder haben und für sie zuständig sind. Zum anderen machen Männer neue Erfahrungen als Väter, sie haben plötzlich Vorbildfunktion und könnten in den Köpfen anderer Männer etwas anstoßen. Daher denke ich, dass es langfristig mehr „moderne“ Paare geben wird als bisher.
Das Homeoffice könnte auch den Arbeitgebern zupasskommen, weil es Kosten spart. Damit könnte die Kinderbetreuung wieder privatisiert werden.
Diese Sorge würde ich mir eher im Hinblick auf die USA machen. Dort sind die Kinderkrippen nämlich privat, und dort gehen gerade einige pleite. Das heißt, nach der Krise müssen die Eltern erst einmal sehen, wie sie ihre Kinder betreut bekommen. In Deutschland sind die Krippen größtenteils in städtischer oder kirchlicher Trägerschaft, die werden nicht schließen müssen. Außerdem gibt es hierzulande eine Schulpflicht. Die meisten Kinder der betroffenen Erwerbstätigen werden also ohnehin irgendwann wieder zur Schule gehen …
… wenn nicht das Homeschooling Schule macht. Aber davon abgesehen: Was müsste passieren, um die derzeitigen strukturellen Benachteiligungen von Frauen zu mindern?
Das Wichtigste ist, die Schulen und Kitas möglichst schnell wieder zu öffnen, vor allem auch, um die 1,5 Millionen Alleinerziehenden in Deutschland zu entlasten. Alles andere ist Flickenteppich. Wenn das nicht möglich ist, muss man sich natürlich auch über die gendergerechte Verteilung von Hilfsprogrammen unterhalten.
Ich habe gerade einen Beitrag gelesen, der davon handelt, dass die Produktivität von Wissenschaftlerinnen während der Corona-Krise gesunken sei. Geht es Ihnen ähnlich, wie beobachten Sie das?
Darüber haben wir schon viel diskutiert. Die Anzahl der wissenschaftlichen Papiere nimmt – nicht nur in unserer Disziplin – exponentiell zu. Das liegt sicher daran, dass das Thema spannend ist und dass es eine große Nachfrage nach Expertise gibt. Außerdem haben die Leute mehr Zeit, zu forschen – aber es sind vor allem Männer, die schreiben. In der Volkswirtschaftslehre arbeiten ohnehin mehr Männer als Frauen, aber das genderspezifische Verhältnis der veröffentlichten Papiere hat sich noch mal verschlechtert. Das hat gute Gründe, denn in Deutschland haben viele Professoren Partnerinnen, die nicht Vollzeit arbeiten. Bei den Professorinnen sieht das aber ganz anders aus, sie sind typischerweise mit einem „Karrieremann“ verheiratet.
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