Fassungslosigkeit. Das ist wohl die Vokabel, die am häufigsten gebraucht wurde, nachdem ein sogenannter Bahn-Schubser eine Mutter und ihren Sohn am Frankfurter Hauptbahnhof ins Gleisbett gestoßen und dadurch den Tod des achtjährigen Kindes verursacht hatte. Innerhalb von zehn Tagen eine Wiederholungsvorstellung, in Voerde erlag eine 34-Jährige bei einer ähnlichen Attacke ihren Verletzungen. Fassungslos ist man, wenn man ein Ereignis nicht begreifen kann, wenn die Register im Kopf versagen. Warum stößt ein dreifacher Vater, so viel war bis dahin bekannt, ein wehrloses Kind, das er nicht kennt, in den Tod? Wie stark muss ein solcher Schub sein, um alle eingefleischten Schutzinstinkte kleinen Kindern gegenüber außer Kraft zu setzen?
Die Mehrheitsgesellschaft reagiert aufgebracht: Muss sie nun nicht mehr nur Terroristengruppen oder Einzeltäter, deren Handlungen irgendwie ideologisch ableitbar sind, fürchten, sondern auch das scheinbar harmlose Gegenüber, das sie an jeder Straßenkreuzung, an jeder Bahnsteigkante bedrohen könnte? Risikovermeidung durch Ausweichbewegungen? Der Eritreer in Wächtersbach, auf den ein Mordanschlag verübt wurde, und Menschen an vielen anderen Orten sind solchen unkalkulierbaren Risikobegegnungen zum Opfer gefallen. Nun kommt bei uns an, was sie aushalten. Macht uns das empfindsamer für deren Leid?
Wenn das Risiko unberechenbar wird, grassiert die Angst als mentales Grundaggregat. Die hilflosen Reaktionen der Sicherheitsbehörden, die fast 6.000 Bahnhöfe in Deutschland umfassend bewachen müssten, ein herbeitaumelnder Bundesinnenminister und nicht zuletzt die politisch zelebrierte „Fassungslosigkeit“ könnten nicht eindrücklicher vorführen, dass die Komfort- und Sicherheitszonen der westlichen Welt immer verletzlicher werden. Solange nur Flüchtlinge, Schwarze, Schwule und Lesben, Kopftuchträgerinnen und was sich das rechtsradikale (oder islamistische) Lager sonst noch als Feindbild ausgeguckt hat, Zielscheibe der Aggression sind, mag sich die Mehrheit (noch) sicher wähnen. Doch die Angst ist viral, sie frisst überall. Und ihr ist auch nicht mit einfachen Verhaltensregeln zu begegnen wie „Treten Sie zurück von der Bahnsteigkante!“
Inzwischen ist die Risikogesellschaft ein auch die Mehrheit bestimmender „Ernstfall“ geworden, um einmal diesen verbrannten, im rechtsradikalen Milieu konservierten und revitalisierten Begriff aufzurufen. Vorbei die Zeiten, als ein unternehmerisches Selbst sich noch spielerisch auf die Gefahr einlassen und Freiheitsgrade austesten konnte, wie es der Soziologe Ulrich Beck in den neunziger Jahren ausbuchstabierte. Der politisch überhöhte, aufstachelnde „Ernstfall“ bedeutet sozial heruntergebrochen ja nichts anderes, als dass der allein auf sich gestellte „Restrisiko-Empfänger“ in der Weltrisikogesellschaft, so Becks späterer, viel pessimistischerer Befund, weiß, dass die auf ihn abgewälzte Verantwortung des Entscheidens überfordert, weil ihm die Mittel dafür längst aus der Hand geschlagen wurden. Beck sieht darin eine „mächtig sprudelnde Quelle“ für den Rechtsradikalismus.
Insofern sind die Flüchtlinge, die mit letzter Kraft übers Mittelmeer nach Europa kommen, nur das Menetekel einer nahen Zukunft mit all ihren Ungewissheiten: soziale Unsicherheit, Terror, Klimawandel. Deshalb sperrt man die Boten des Unglücks lieber aus. Angst ist die Triebkraft der Fridays-for-Future-Bewegung, ebenso wie derer, die glauben, in einer abgeschotteten Gesellschaft besser aufgehoben zu sein. Und bei aller Sympathie für den Furor und die Verantwortungsbereitschaft der Klimaaktivisten und -aktivistinnen und bei allen Speigefühlen gegenüber Rechtsradikalen: Wiegt Angst verschieden?
Eine Gesellschaft in Furcht, erklärte der Soziologe Zygmunt Bauman am Ende seines Lebens, kennt keine Zukunft mehr. Die Angst vor dem Zurückgelassenwerden sei größer als das Vertrauen in die künftige Entwicklung. Dabei ist es gar nicht von Belang, ob diese Angst eine objektive Grundlage hat – das Risiko, von einem Fremden in ein Bahngleis gestoßen oder Opfer eines Terroraktes zu werden, dürfte sehr viel geringer sein, als im Verkehr den Tod zu finden –, ausschlaggebend ist das subjektive Empfinden des erlebten Kontrollverlusts.
Das wissen auch die Profiteure der Angst, die selbst nach so tragischen Ereignissen wie in Frankfurt ihre rhetorischen Brandsätze zünden. Die Tatsache, dass es sich bei dem mutmaßlichen Täter um einen Mann aus Eritrea handelte, genügte Alice Weidel (AfD), um daraus politisches Kapital zu schlagen, indem sie statt der „grenzenlosen Willkommenskultur“ den Schutz der Bürger forderte. Inzwischen hat sich herausgestellt, dass es sich bei dem Mann um einen psychisch kranken Menschen handelt, möglicherweise die Spätfolge einer traumatisch erlebten Flucht. Weidel wird das egal sein. Den Mordanschlag in Wächtersbach kommentierte sie nicht.
Um die Lähmung, die aus der Angst folgt, zu überwinden, muss man wieder handlungsfähig werden. Und da ist es dann doch ein Unterschied, ob junge Demonstranten für den Klimaschutz auf die Straße gehen oder der rechte Mob zur „Tat“ schreitet und mordend durchs Land zieht, um die Krisenstimmung anzuheizen. Die Angst vor der Bahnsteigkante und die Angst vor der sozialen Bruchkante allerdings haben eine gemeinsame Wurzel.
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