Gleich, gleicher, am gleichesten

Gender Theoretisch haben Menschenrechte kein Geschlecht. Praktisch schon, zeigt ein neuer Band
Ausgabe 06/2019

Wir nobilitieren, was wir in der Verlustzone wähnen. Das gilt für die in TV-Serien gefeierte Familie ebenso wie für die SPD oder Eisbären in der Arktis. Gehören auch die Menschenrechte zu den bedrohten Gütern, die nur noch in den eingehegten Reservaten besonders gutwilliger Staaten Bestand haben? Einige der anlässlich des 70. Jubiläums der Verkündung der Menschenrechte im vergangenen Dezember veröffentlichten Würdigungen lassen vermuten, dass die 1948 und unter dem Eindruck des Holocaust in Paris verbrieften Rechte, die ohne jeden Unterschied aufgrund von Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache oder Religion, politischer Überzeugung oder sozialer Herkunft gelten, nicht nur seitens autoritärer oder halb-autoritärer Regime missachtet werden, sondern auch intellektuell unter Beschuss geraten sind.

Seismograf für Letzteres ist die boomende historische Literatur, die sich mit der Konjunktur, aber auch mit der politischen Instrumentalisierung der sprechend als „Moralpolitik“ apostrophierten Menschenrechte befasst. Gemeint ist damit der von Anfang an eingeschränkte Universalismus der westlichen Noch-Kolonialländer nach dem Zweiten Weltkrieg als auch die Einvernahme der Menschenrechte für Partikularinteressen. Diese wurden zum politischen Bezugspunkt und Appell für unterdrückte Völker, die schwarze Bürgerrechtsbewegung, politische Dissidenten – und nicht zuletzt für Frauen.

Wie aufschlussreich die Geschlechtergeschichte für „die Dynamik von Ausschluss und Aneignung, Umschreibung, Erweiterung und Zurückweisung“ von Menschenrechten sein kann, zeigt der von Roman Birke und Carola Sachse herausgegebene Sammelband Menschenrechte und Geschlecht im 20. Jahrhundert. Denn wie lässt sich erklären, dass zwar der menschenrechtliche Universalanspruch plakatiert wurde und theoretisch auch für Frauen galt, in der Praxis aber in weiter Ferne lag. Und wie wurde die natürlich angeborene Gleichheit, wie sie die Menschenrechtserklärung unterstellt, mit der normativ gültigen, hierarchisch strukturierten Geschlechterdifferenz in Einklang gebracht?

Eben doch „anders“

„So sind auch die Frauen frei, weil es in einem Staate freier Menschen keine Unfreiheit geben kann. Die Menschenrechte haben kein Geschlecht“, lieferte Hedwig Dohm bereits 1876 den Slogan für die feministische Zukunft. Doch selbst die frühen Frauenrechtlerinnen, die sich für das weibliche Stimmrecht starkmachten, waren in den herrschenden und oftmals gar nicht hinterfragten dualistischen Geschlechterbildern gefangen. Demnach war die Frau zwar gleich, aber eben doch „anders“ als der Mann, gleichwertig, aber komplementär und eben nicht ebenbürtig. Diesem Dilemma, das belegen die Beiträge von Brigitta Bader-Zaar und Regula Ludi, versuchten die Frauen zu entkommen, indem sie die Differenz rationalisierten und politisierten, etwa indem sie auf den spezifischen Beitrag der Frauen für Staat und Gesellschaft verwiesen. In Deutschland und anderen europäischen Staaten führte das nach dem Ersten Weltkrieg schließlich zur Einführung des Frauenwahlrechts.

Gleichzeitig jedoch galten Frauen als besonders exponierte und schutzwürdige Gruppe. Die Haltung zum Arbeiterinnen- und Mutterschutz zerriss deshalb schon die Erste Frauenbewegung. Ihr egalistischer Flügel wie die Open-Door-Bewegung forderte unbedingte Gleichheit mit dem Mann; die Frauenvertreterinnen in der Internationalen Arbeiterorganisation (IAO) indessen machten Sonder(schutz)rechte für Frauen geltend. Die kontroverse Debatte, so Ludi in ihrer detaillierten Analyse der Menschenrechtssprache im Völkerbund, schuf jedoch einen neuen normativen Referenzrahmen: Nicht mehr die Gleichheitsforderung der Frauen (oder anderer partikularer Gruppen) war nun begründungsbedürftig, sondern deren Ungleichbehandlung. Wer fortan Menschenrechte im Munde führte, reklamierte nicht nur Gerechtigkeitsansprüche, sondern kritisierte auch die Machthaber, die diese verwehrten.

Dass Menschenrechte durchaus auch in konservativer Absicht vereinnahmt wurden, belegt Irene Stoehr am Beispiel westdeutscher Frauenorganisationen, die in der Nachkriegszeit in deren Namen gegen den vermeintlich überbordenden Kommunismus aufmarschierten. Das vom Ende des Kalten Krieges hinterlassene ideologische Vakuum wurde wiederum gefüllt von einer Euphorie der Menschenrechte, die bis zur Jahrtausendwende währte. Dass unter deren Ägide sogar die gezielte Ungleichbehandlung statthaft wurde, beweist der US-amerikanische „Affirmative Act“ zugunsten ethnischer oder anderer Minderheiten und Frauen. In Form von Quoten oder anderer Maßnahmen sollte nun Gleichheit hergestellt werden, was inzwischen, so Karin Riegler, wiederum die sich „diskriminiert“ fühlende „Mehrheit“ (Weiße bzw. Männer) auf den Plan gerufen hat, die sich mit viel publizistischem Aufwand – ebenfalls im Namen der Menschenrechte – Gehör verschafft.

Leider nur ein einziger Beitrag des Bandes setzt sich mit dem westlich-feministischen Interpretationsanspruch der Menschenrechte gegenüber den „Frauen des Südens“ – und damit auch mit der kulturrelativistischen Perspektive auf die Menschenrechte – auseinander, und selbst dieser stammt von einer Österreicherin, der Ethnologin Anke Graneß. Unter anderen ruft sie die nigerianische Philosophin Nkiru Uwechia Nzegwu auf, die am Beispiel der vorkolonialen Gesellschaft der Igbos zeigt, dass die Verwandtschaftskategorie für die afrikanischen Frauen wesentlich mehr Bedeutung hat als Geschlecht. Ihre Kritik an den auf die afrikanischen Verhältnisse übergestülpten „europäisch-amerikanischen Werten“ und die unhinterfragte Annahme der Geschlechterungleichheit ist grundsätzlich, wird von Graneß indessen aber auch gleich wieder relativiert.

Man hätte hier lieber die afrikanischen Theoretikerinnen selbst gelesen und darüber hinaus weitere feministisch-kulturrelativistische Positionen vorgestellt bekommen. Dieses Manko ist den beiden Herausgebern durchaus bewusst, wenn sie in der Einleitung schreiben, dass der Band zwar abbilde, wie sich Frauen über den Menschenrechtsdiskurs als Kollektiv entwerfen und ihre Forderungen durchsetzen konnten, aber nicht, wie Kategorien wie Familie, Clan, Ethnie, Religion oder Kultur diesen Prozess verkompliziert haben.

Info

Menschenrechte und Geschlecht im 20. Jahrhundert Roman Birke/Carola Sachse (Hg.), Wallstein-Verlag 2018, 270 S., 29,90 €

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin (FM)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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