Kartierte Rede

Sprachatlas Leipziger Wissenschaftler erforschen die Struktur des menschlichen Sprechens

Deutsche Sprache, schwere Sprache, heißt es im gemeinhin, doch gemessen an vielen anderen der weltweit 7.000 noch lebendigen Sprachen gehört Deutsch wahrscheinlich zu den einfacher zu erlernenden Zungen. Immerhin kennen wir nur vier grammatische Fälle und zählen lediglich 23 Konsonanten und 14 Vokale, darunter allerdings die höchst seltenen ü und ö, die nur in vier Prozent aller Sprachen vorkommen. Komplizierter als in den meisten anderen Sprachen ist auch die deutsche Satzstellung. Während viele Sprachen die strenge Vorfahrtsregel von Subjekt, Verb und Objekt befolgen, zeichnet sich das Deutsche durch ein chaotisches Durcheinander aus: Mal schmuggelt sich das Verb an den Satzbeginn, ein andermal steht es mittendrin, und gelegentlich hängt es nur als Wurmfortsatz hinten dran.

Von den 7.000 globalen Sprachen sind nun gut ein Drittel, genau gesagt 2.560, ausführlich in einem monumentalen Weltatlas der Sprachkulturen dokumentiert, den ein 50-köpfiges Wissenschaftsteam des Leipziger Max-Planck-Instituts für evolutionäre Anthropologie zusammengetragen hat. Statt, wie in der Linguistik üblich, Einzelsprachen zu untersuchen und miteinander zu vergleichen, haben die Forscher 142 Sprachkarten angelegt, die die Sprachen nach Strukturmerkmalen miteinander vergleichen: Nach der Anzahl der Konsonanten und Vokale etwa, der Genus- und Plural-Bildung, nach der Stellung des Verbs, der Zahl der Fälle, nach Zeitformen, Schriftsymbolen und vielem mehr. Auf jeder Karte werden rund 400 Sprachen einer Sprachfamilie berücksichtigt. Dabei ist es für die Forscher gleichgültig, ob es sich um eine gut dokumentierte Weltsprache wie Englisch, Französisch oder Spanisch handelt oder um ein kleines regionales Idiom, das nur noch von wenigen tausend Sprechern in den entlegensten Teilen der Welt beherrscht wird. Auf der mitgelieferten CD kann der Benutzer die Variablen neu kombinieren und je nach Interesse eigene Karten generieren.

Gibt es so etwas wie sprachliche Universalien? Wie manifestieren sich sprachliche Unterschiede und wie lassen sie sich erklären? Warum differenzieren indogermanische Sprachen beispielsweise eindeutig nach Geschlecht, während außerhalb dieses Sprachkreises keine Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Formen gemacht werden? Vieles lässt sich nur beschreiben und noch nicht erklären. Das überraschendste Ergebnis, so die Wissenschaftler, sei, dass sprachliche Ähnlichkeiten viel weniger auf eine genetische Ursprungssprache zurückzuführen sind als bislang angenommen; vielmehr gibt es viele räumliche Parallelen, das heißt geografisch benachbarte Sprachen, die jeweils einer anderen Sprachfamilie zuzuordnen sind, weisen vergleichbare Strukturen auf. Das Hindi, das sich aus dem Indoeuropäischen entwickelt hat, gleicht beispielsweise dem "fremden" Tamil, und das Finnische ist mit den Nachbarsprachen Norwegisch und Schwedisch verwandt, obwohl es der slawischen Sprachfamilie entstammt.

Wie viele der 7.000 Sprachen in 40, 50 oder gar 100 Jahren noch existieren - das heißt, wie viele aktive Sprecher es noch geben wird - ist nicht genau abzusehen, doch die Situation ist dramatisch. Alle zwei Wochen, sagen die Forscher, stirbt eine Sprache aus, mit zunehmender Geschwindigkeit. Insbesondere Sprachen, die lediglich durch mündliche Überlieferung lebendig bleiben und nicht schriftlich fixiert sind, gelten als bedroht. Die wenigen Sprecher ziehen beispielsweise vom Land in die Großstädte, übernehmen dort die europäischen oder großen asiatischen Sprachen und vergessen ihre Herkunftssprache. Insofern dient das Projekt auch der Sprachbewahrung, wenn ein Idiom nicht mehr aktiv gesprochen wird.

Wem der bizarre Streit um die deutsche Rechtschreibung auf den Nerv geht, kann sich mit dem Sprachatlas getrost zurückziehen und das komische Deutsch auf den sprachglobalen Prüfstand stellen. Und sich vorstellen, jede Sprachkultur leistete sich solchen Luxus wie die Deutschen.

Martin Haspelmath u.a.: The World Atlas of Language Structures. Oxford. 275 Pfund.

Weitere Informationen:

www.eva.mpg.de


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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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