Risiko-abwägung

URTEIL Kein Recht auf ein gesundes Kind

Am Tag als das Bundesverfassungsgericht die derzeitige Beitragsregelung in der Pflegeversicherung verwarf und an den Gesetzgeber zur Korrektur zurückgab, befand - von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen - das Bundessozialgericht in Kassel, dass künstliche Befruchtung in den Leistungskatalog der Krankenkassen aufzunehmen sei. Zwar kommen die Versicherungen bereits seit 1990 für die "einfache" In-Vitro-Fertilisation (also die künstliche Befruchtung im Reagenzglas) auf, doch bislang weigerten sie sich, auch für die ICSI-Methode zu bezahlen. Bei ICSI (der Intrazytoplasmatischen Spermieninjektion) wird ein einziges Spermium mit Hilfe einer Nadel in die Eizelle injiziert, für unfruchtbare Männer oft die einzige Chance, ein Kind zu zeugen. ICSI war 1997 vom Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen aus dem Leistungskatalog ausgenommen, weil bei dieser Methode die erhöhte Gefahr von Missbildungen besteht.

Einmal davon abgesehen, dass es sich bei ICSI um eine vergleichsweise teure Therapie handelt - ein Zyklus, der viermal wiederholt werden darf, kostet rund 7.000 Mark -, wird die Erfolgsrate bei dieser Methode in der Regel viel zu hoch veranschlagt: So räumte selbst der Lübecker Repro-Mediziner Klaus Diederich (der derzeit von einer Strafanzeige wegen unerlaubter Vermittlung von Präimplantationsdiagnostik (PID) im Ausland bedroht ist) im Mai vergangenen Jahres ein, dass ICSI mit 23 Prozent Erfolgs- = Geburtenrate weit unter den Erwartungen liege, auch wenn sie im Vergleich zur IVF (19 Prozent) etwas bessere Chancen zeitigt. Problematisch ist die Methode auch hinsichtlich der selektiven "Positiv"auswahl der Spermien; wenn man so will, die Kehrseite der bislang gesetzlich noch verbotenen PID.

Interessant ist das Urteil gerade in Hinblick auf die PID-Diskussion: Die Kasseler Richter und Richterinnen stellen nämlich fest, dass das Missbildungsrisiko kein Grund zum Leistungsausschluss von ICSI sei; die Versicherten hätten zwar einen Anspruch auf die Herbeiführung einer Schwangerschaft, nicht jedoch auf die Geburt eines gesunden Kindes. Dieses Risiko abzuwägen, müsse den Eltern überlassen bleiben. Im Umkehrschluss verwirft das Urteil damit allerdings die in der PID-Debatte weit verbreitete Vorstellung vom Recht auf ein gesundes Kind. Bei der PID geht es bekanntlich darum, im Vorfeld Embryonen auszusondern, von denen man annimmt, sie könnten die Anlage für eine Erbkrankheit haben. Dem Enqueteausschuss des Deutschen Bundestags, der derzeit gerade seine Stellungnahme zur PID entwirft, sollte das Urteil jedenfalls zu denken geben.


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Zu denken gibt auch ein Vorfall aus der Transplantationspraxis: In London hat sich Clint Hallam Anfang Februar seine 1998 unter allgemeinem Aufsehen transplantierte rechte Hand wieder amputieren lassen. Er habe sich mit dem fremden Körperteil "behindert" gefühlt, bestätigte der Neuseeländer der BBC. Die behandelnden Ärzte hingegen warfen ihrem Patienten vor, sich nicht an die - lebenslang notwendige - Einnahme von Immunsuppressiva gehalten und damit sein Leben in Gefahr gebracht zu haben. Dass dieses als mangelnde "Compliance" bekannte Phänomen nicht Ursache, sondern Folge einer Transplantation ist, durch die sich die Patienten unbewusst gegen die Einverleibung eines Fremdkörpers wehren, wird in der Transplantationsforschung schon lange diskutiert. Körper und Geist, so auch Hallam, hätten die fremde Hand vehement abgelehnt. Dabei gilt die Übertragung eines sichtbaren und empfindlichen Körperteils wie der Hand als besonders problematisch. Mittlerweile bereiten sich auch deutsche Kliniken, zum Beispiel in Heidelberg, darauf vor, Handverpflanzungen durchzuführen.

Auch dies wäre ein Thema für den vom Kanzler geplanten Ethikrat. Der Streit um dessen Ansiedelung - im Umkreis des Kanzleramtes, beim Bundespräsidenten oder, wie sich jetzt abzeichnet, bei der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften - ist vergleichsweise unerheblich; gespannt darf man allerdings darauf sein, wie sich der Ethikrat zusammensetzen wird, und ob er die Energie und das Rückgrat aufbringt, auch unliebsame Stellungnahmen abzugeben.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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