Mit einem Impfwerbevideo hat die australische Regierung viel Empörung auf sich gezogen. Darin sieht und hört man eine junge Frau in einem Krankenhausbett, die an ein Beatmungsgerät angeschlossen ist und über unerträglich lange 20 Sekunden verzweifelt nach Luft ringt. Eingeblendet wird der Schriftzug „Covid kann jeden treffen“ und die Aufforderung, sich impfen zu lassen. Panikmache werfen Wissenschaftlerinnen den Verantwortlichen vor, wie etwa Jessica Kaufman in der britischen Tageszeitung The Guardian. Auf dem weitläufigen Kontinent sind derzeit gerade einmal neun Prozent der Bevölkerung ausreichend geimpft, und die Angst vor der Delta-Variante veranlasst das dortige Gesundheitsmanagement, alle Register zu ziehen.
Zumindest in den reicheren Ind
n den reicheren Industrienationen ist das Pendel inzwischen zur anderen Seite ausgeschlagen. Bestimmte bis Ende Juni noch die Impfstoffknappheit und der Groll über eine nicht zu befriedigende Nachfrage die Debatte, ist seit einigen Wochen von „Impfmüdigkeit“ die Rede. Zwar gehört die „Impfstoffschwemme“, von der gelegentlich zu lesen ist, eher ins Reich der Fantasie, doch es sind vielerorts tatsächlich mehr Vorräte vorhanden als Impfinteressent:innen, und die langen Schlangen vor den Zentren haben sich wie durch Zauberhand aufgelöst.Wurden in Spitzenzeiten täglich bis zu 1,4 Millionen Impfdosen verabreicht, sind es derzeit nicht einmal eine halbe Million. Die über 60-Jährigen gelten mit 73 Prozent Durchimpfung als gut geschützt, aber nur etwas über 45 Prozent der Gesamtbevölkerung haben ihre Zweitimpfung bereits erhalten, weit entfernt also von der 85-Prozent-Marke, die das Robert-Koch-Institut anpeilt, um die ansteckendere Delta-Variante in Schach zu halten. Sie verursacht inzwischen drei Viertel aller Infektionen. Und die Inzidenzen steigen kontinuierlich wieder an.Kann uns doch egal sein, könnte man mit der britischen Regierung sagen, die – Impfstoffvorkaufsrechte sei Dank – 90 Prozent aller Einwohner:innen Englands zumindest einmal hat impfen lassen können. Sie hat zum 19. Juli fast alle Corona-Beschränkungen aufgehoben und gibt ihrer Bevölkerung die Chance, ins normale Leben zurückzukehren. Was immer das heißt angesichts von Inzidenzzahlen, die an der 400er-Marke schrammen. Mit 100.000 Neuinfektionen pro Tag rechnet der britische Gesundheitsminister Sajid Javid, der, obwohl geimpft, nun selbst an Covid-19 erkrankt ist. Experimente mit Todesfolge haben in Großbritannien Tradition, der berühmte Wegbereiter des Empirismus, Francis Bacon, etwa starb bei seinen Versuchen mit eingefrorenen Hähnchen an einer Lungenentzündung. Der Londoner Bürgermeister allerdings hat Widerstand gegen Johnsons Lockerungspläne angekündigt und will die Maskenpflicht im öffentlichen Nahverkehr beibehalten.Spahn zitiert BidenAuch wenn es in Deutschland ebenfalls politische Vorstöße gibt, das Verhältnis von Sicherheit und Freiheit in Richtung der Letzteren zu verschieben, überwiegt derzeit noch die eher vorsichtige Fraktion. AHA-Regeln plus Lüften, ließ Kanzlerin Angela Merkel anlässlich ihres viel beachteten Besuchs beim Robert-Koch-Institut Mitte Juli wissen, seien zumutbare Einschränkungen, die auch in den nächsten Monaten gälten. Mit dem Slogan „im Sommer entscheiden wir über den Herbst“ ist Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) seither unterwegs. Jeder bestimme durch seine Impfentscheidung, wie stark das Gesundheitssystem belastet würde. „Es gibt keine Ausrede mehr.“ Keine Impflicht für alle zwar, aber immerhin ein Impfgebot, so Spahn.Die Ausrede, von der er spricht, der monatelange Impfstoffmangel, hat der Minister selbst mitverursacht. Wer sich nun aber trotz Impfangebot nicht piksen lasssen will, entzieht sich seiner „patriotischen Pflicht, wie Spahn US-Präsident Joe Biden zitiert, und verhindert eine „neue Normalität“. Damit liegt der Schwarze Peter bei jedem Einzelnen. So erklärte auch Gerald Gaß, der Chef der Deutschen Krankenhausgesellschaft, kürzlich in einem Interview mit dem Deutschlandfunk: „Wir müssen jetzt schrittweise von der kollektiven zur individuellen Verantwortung kommen.“ Und das geht nur entweder über Sanktions- oder über Anreizsysteme. Die wieder ansteigenden Infektionszahlen auch in den Nachbarländern verschärfen eine Debatte, die in Variationen schon Anfang des Jahres aufgeflammt war, als es um „Sonderrechte“ für Geimpfte ging.Nun aber kehrt sich das Argumentationsmuster um: Die einstigen Vorteile der einen werden in Nachteile der anderen umgemünzt. Den Vorstoß machte wie üblich Markus Söder (CSU), dessen Wirtschaftsminister Hubert Aiwanger von den Freien Wählern pikanterweise dem Lager dem Impfgegner zugezählt wird: „Testen kostet enorme Summen“, sagte der bayrische Ministerpräsident in einem ARD-Interview. Es müsse also darüber nachgedacht werden, ob Corona-Tests kostenlos bleiben, wenn alle Menschen ein Impfangebot erhalten haben. Ähnliches forderte auch der Tourismusbeauftragte der Bundesregierung, Thomas Bareiß (CDU). Und Ärztepräsident Klaus Reinhardt begrüßt die in Frankreich bereits für den Herbst angekündigte Einstellung von Schnell- und PCR-Tests: Es sei angemessen, dass Ungeimpfte diese selbst bezahlen, wenn sie in Urlaub fahren oder ins Restaurant gehen wollen, die Gemeinschaft könne nicht für den Impfunwillen Einzelner aufkommen. Die Politik solle jetzt schon klarstellen, dass „es auf Dauer immer mehr Nachteile für Ungeimpfte“ gebe. Damit aber würde, kritisiert der gesundheitspolitische Sprecher der Linksfraktion, Achim Kessler, eine indirekte Impfpflicht eingeführt, von der sich Wohlhabende freikaufen können.Merkel und Spahn reagierten auf den Vorschlag abwartend, wenn auch nicht völlig ablehnend. Offensichtlich wollen sie den Eindruck vermeiden, doch noch eine Impfpflicht einzuführen, auch nicht für medizinisches oder erzieherisches Personal, wie von manchen gefordert. „Wir brauchen aufsuchende Impfangebote“, sagte Merkel in der Pressekonferenz des RKI. In einer späteren Phase der Pandemie, erklärte Spahn, könnte man auch darüber nachdenken, ob Schnell- und PCR-Tests kostenpflichtig werden. Niedrigschwellige Impfangebote werden, wie eine Aktion am Wochenende vor einer IKEA-Filiale in Berlin-Lichtenberg beweist, von der Bevölkerung durchaus angenommen. Zwischenzeitlich warteten 2.000 Impfwillige in langen Schlangen vor dem Drive-in, wo zwar genügend Impfstoff verfügbar war, aber zu wenig Personal, sodass nur rund 600 Menschen geimpft werden konnten.Vielleicht benötigt es also gar keine dringenden Appelle von Bundespräsident oder Kanzlerin, sondern einfach Gelegenheiten, die angesichts stundenlanger Wartezeiten allerdings attraktiver gestaltet werden müssten. Auch Vorschläge, der erforderlichen Impfquote von 85 Prozent durch finanzielle Anreize nachzuhelfen, wie es in anderen Ländern üblich ist, erscheinen fragwürdig. Die Ökonomin Nora Szech hatte kürzlich vorgeschlagen, Impfwilligen bis zu 500 Euro zu bezahlen, um der Fairness willen auch denjenigen, die schon geimpft sind. Impfen sei ein Aufwand, der entschädigt werden solle, argumentiert sie, und dies würde sich angesichts des Nutzens einer Herdenimmunität auch rechnen.In den USA veranstaltet man Lotterien mit hohen Gewinnen, schenkt Freibier aus oder verteilt Joints, selbst mit kostenlosen Waffen werden Impfunwillige gelockt. In Indonesien gibt’s ein lebendiges Huhn für die Ärmeren, 18- bis 25-Jährige erhalten in Griechenland 150 Euro auf die Bankkarte, wenn sie sich impfen lassen, in Moskau wurden Autos und sogar eine Eigentumswohnung ausgelobt, wie Watson herausgefunden hat. Braucht ein gesundheitsbewusstes Volk wie die Deutschen, das jährlich insgesamt 411 Milliarden Euro für sein Wohlergehen ausgibt – das heißt fast 5.000 Euro pro Kopf –, derartige Anreize? Eine Studie des Wissenschaftszentrums Berlin hat ergeben, dass ausreichende Anreize die Impfbereitschaft der Bevölkerung zwar um acht Prozent erhöhen würden, aber damit nicht ausreichend, um die angepeilte Marke zu erreichen.Und wenn Delta floriert?Außerdem würde dies nicht das Problem der über 12-jährigen Kinder und Jugendlichen lösen, für die die Impfung nach den Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (STIKO) nicht Regel werden soll. Zum Ärger von Markus Söder, der alles versucht, um das Gremium zu einem neuen Votum zu bewegen, und nicht davor zurückschreckt, es zu disqualifizieren: Im Unterschied zur Europäischen Zulassungskommission, die von Profis besetzt sei, arbeite die Impfkommission nur ehrenamtlich, behauptete er. Das Rückgrat der STIKO und ihres Vorsitzenden Thomas Mertens gegenüber dem politischen Druck ist beachtlich: Die Empfehlungen seines Gremiums, ließ Mertens den Bayern-Chef wissen, erfolgten „unabhängig von Meinungen und Wünschen von Politikern und der pharmazeutischen Industrie“.Ob dem von Karl Lauterbach prophezeiten schönen Sommer auch ein solcher Herbst folgt, ist also fraglich. Er geht sogar davon aus, dass viele Veranstalter dann nur noch Genesene und Geimpfte einlassen könnten, weil ihnen die Tests nicht sicher genug sind. Bis Herbst wird auch die Liste der Risikoländer wieder von beträchtlicher Länge sein. Vorschnell dagegen hat Wirtschaftsminister Peter Altmaier am Wochenende einen weiteren Lockdown ausgeschlossen. Die Bundesregierung kündigt an, künftig nicht nur Inzidenzzahlen, sondern auch Hospitalisierungsquoten in die Gefährdungskalkulation miteinzubeziehen. Aus anderthalb Jahren Corona-Krise haben wir gelernt, dass die Ankündigung von heute morgen schon Makulatur sein kann.Ein Wissenschaftsteam um Amalio Telenti hat kürzlich in der Zeitschrift Nature Szenarien entworfen, wie es mit der Pandemie weltweit weitergehen könnte. Der Worst Case geht davon aus, dass sie nicht unter Kontrolle gebracht werden und das Virus unter günstigen Bedingungen weiter mutieren kann. Im zweiten, als wahrscheinlicher angenommenen Fall könnten demnächst entwickelte Medikamente dazu beitragen, das Virus auf das Niveau von Grippeviren zurückzudrängen, wobei auch die saisonale Grippe jährlich massenhaft Todesopfer fordert. Die optimistischste Variante wäre, wenn Covid-19 eine normale Infektionskrankheit mit leichten Krankheitsverläufen würde, wobei niemand weiß, wie lange das dauern wird. Vom Planeten zu eliminieren ist das Virus jedenfalls nicht mehr.
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