Stuttgart, du Jerusalem

Corona-Prähistorie Heiler und Spiritisten prägten auch die Unruhen der Weimarer Republik. Was kann man daraus lernen?
Ausgabe 37/2020

Nun ist das Handbuch der politischen Ikonografie um einen Eintrag reicher. Dass anlässlich der Anti-Corona-Demonstration in Berlin eine Horde rechtsradikaler Demonstranten mit der verbotenen Reichsfahne die Stufen des Reichstags erklimmen und dort ihren Abscheu vor der Republik bekunden konnte, wird vielleicht einmal als Kipppunkt gewertet werden, ählich wie einst der Kniefall Willy Brandts in Warschau. Das Entsetzen, das die Szene ausgelöst hat, folgte nicht nur politischer Pflicht.

Doch beunruhigender als die rechten Symbolträger wirken Figuren wie Tamara K., die die Gunst der Stunde nutzen, um sich ins Geschichtsbuch einzuschreiben. Von der Bühne herab und vor der russischen Botschaft stachelte die aus der Eifel stammende Heilpraktikerin die Demonstrierenden an, ihr „Hausrecht“ im Reichstag zu reklamieren und die Treppe zu besetzen. Würde man den Zusammenhang nicht kennen, würde man die Frau mit den langen Haaren, den Bändchen am Arm und dem verwaschenen blauen Hemd auf einer Demo gegen die Castor-Transporte verorten oder bei einer „Ende Gelände“-Aktion. Sie könnte ein nachgeborenes Relikt jener enttäuschten Generation sein, die sich in den 1970er und 1980er Jahren in Landkommunen zurückgezogen hatte, um den Weg nach innen anzutreten und mittels gesunder Ernährung und Pendeln der Wahrheit näher zu kommen.

Auch Tamara K. bietet auf ihrer Internetseite diverse mehr oder weniger obskure Therapien an – doch sie ist eine Aussteigerin ganz anderer Art. Sie steht den Reichsbürgern nahe, die das Gewaltmonopol des Staates nicht anerkennen und sich der Bundesrepublik nicht zugehörig fühlen. In Berlin fabulierte Tamara K. vom Besuch Donald Trumps in der nahen US-Botschaft und forderte ihn auf, zusammen mit Putin sofort einen Friedensvertrag für Deutschland abzuschließen. Später wird sie mit der rechtsextremen Sturmspitze die Reichstagstreppen hochstürmen.

In der Räterepublik

In der Etappe weht währenddessen die Pace-Regenbogenfahne neben der Reichsfahne. Darunter vermischt sich, man weiß es, ein illustres Völkchen aus Impfgegnern und Gates-Hassern, Fake-News-Propagandisten und Verschwörungsgläubigen, Esoterikern und Bibellesern, Nihilisten und Heilssuchenden, Mitläufern und Missionaren. Was sie eint, sind die erklärte Staatsferne und das Misstrauen. Ihr Wille zur „Tat“, und sei es nur der trotzige Verzicht auf Maske und verordneten Abstand, durchdringt sie. Das ist kein neues Phänomen. Zwar sind die kleinen und großen Prediger, die vor 100 Jahren die Straßenecken der Städte bevölkerten und ihre Jünger um sich scharten, heute ins Internet abgewandert. Doch erst hier, auf der „Demo“, finden die Gemeinden zusammen zur leiblichen Selbstvergewisserung.

„Inflationsheilige“ nannte der Historiker Ulrich Linse 1982 jene aus dem Ausnahmezustand nach dem Ersten Weltkrieg hervorgegangene Sozialbewegung, in der sich Zivilisationsflüchtige und Naturapostel, Anarchisten und Christus-Sucher, lebensreformerische Schwärmer und Asketen, linke Umstürzler und rechte Trommler zusammenfanden, um sich als Erlöser anzudienen. „Inflationsheilige“ deswegen, weil die Entwertung der Mark in den ersten Jahren der Weimarer Republik nicht nur materielle Sicherheiten zerstörte, sondern auch tradierte Wertmaßstäbe so sehr ins Wanken brachte, dass die radikal antimoderne Bewegung rasch Zuspruch fand. Sie hatte ihren Ursprung im pietistischen Württemberg, in Thüringen und Sachsen, fand aber auch Widerhall in den großen Städten Hamburg und Berlin. In der Stuttgarter Liederhalle hielt der Wanderprediger Louis Haeusser Massenveranstaltungen ab, unterstützt von seinen Anhängern, die Geld sammelten oder Flugschriften vertrieben. Die schwäbische Hauptstadt galt als das „neue Jerusalem“, in dem die chiliastischen Hoffnungen blühten und jener Erneuerungswille, der die Barfüßigen Propheten, so der Titel von Linses Buch, beflügelte. Auf der Alb in Bad Boll fand der von Nietzsche und Bakunin beeinflusste Theodor Plievier seinen „Kreis“ und schloss sich dem Thüringer „Zug der Neuen Schar“ an. Es dürfte kein Zufall sein, dass „Querdenken 711“, das die Berliner Corona-Demonstration in Bewegung setzte, ausgerechnet im anthroposophischen Stuttgart seinen Stammsitz hat. Tamara K. soll im traditionell rechts gestimmten oberschwäbischen Ravensburg viel Besuch aus der hochaktiven Reichsbürgerszene erhalten haben. Es ist der „Aufstand der Landschaft gegen die Metropole“, der sich vernachlässigt geglaubten Provinz gegen Berlin, der sich wie schon in der Weimarer Zeit hier formiert.

Das jahrmarktähnliche Predigerwesen beobachtete Oskar Maria Graf schon in der Zeit der Münchner Räterepublik: „Christenmenschen predigten in Versammlungen, Nacktkulturanhänger verteilten ihre Kundgebungen, Individualisten und Bibelforscher, die den Anbruch des tausendjährigen Reichs verkündeten, und Käuze, die für Vielweiberei eintraten, eigentümliche Darwinisten und Rassentheoretiker, Theosophen und Spiritisten trieben ein harmloses Unwesen“, zitiert Volker Weidermann in seinem Buch Träumer den bayrischen Schriftsteller und Aktivisten. Die angenommene „Harmlosigkeit“ wird sich bei zumindest einem damals agierenden, wenig wahrgenommenen Protagonisten, Adolf Hitler, als folgenreicher Irrtum erweisen.

Während in den Anfangsjahren der Weimarer Republik die Inflation die Gewissheiten erschütterte, ist es heute die Corona-Krise. Sie kulminiert in der Angst, dass der „Verschwörer-Staat“ und seine Eliten die Menschen umfassend kontrollieren und eine Diktatur vorbereiten. In den USA sind es die QAnon-Anhänger, die dieses angeblich vom „Tiefen Staat“ verursachte Endzeitszenario verbreiten. Auch wenn sich QAnon säkular und manchmal zynisch gibt, birgt es Elemente einer Erlösungsreligion, die den historischen nicht nachsteht, etwa wenn sie Donald Trump als „neuen Heiland“ verklärt, der den kommenden Aufstand anführen wird. Und auch die in den Kinderschänder-Behauptungen zirkulierenden Blutfantasien – darauf macht Veronika Kracher in konkret aufmerksam – enthalten christlich konnotierte, antisemitische Klischees: Demnach saugen Demokraten-Vampire Blut von Kindern, um sich zu verjüngen.

Bezeichnend sind auch die Endzeitbilder, die sowohl in der Verschwörungserzählung von QAnon als auch in der hiesigen Szene der Corona-Leugner und militanten Impfgegner das Bewusstsein vernebeln. Der These vom „Ende der Demokratie“, von einer legalen Verschwörerbande auf den Weg gebracht, kann man vielleicht noch rationale Argumente entgegensetzen; der auf den Demonstrationen ins Bild gefasste insinuierte Tod durch staatlich verordnete Spritzen (Impfen) macht fassungslos. Es handelt sich einmal mehr um eine apokalyptische Überhöhung von kollektiven Ängsten. Apokalyptische Deutungen, schreibt der Literaturwissenschaftler Klaus Vondung in seiner Studie Die Apokalypse in Deutschland (1988), seien das Ergebnis von Erfahrungsauslegungen in einer besonderen historischen Situation seitens einer Minderheit, die sich politisch oder religiös unterdrückt fühlt.

Viel zu eng gedacht wäre es deshalb, das, was wir momentan erleben, nur vor dem Hintergrund der staatlichen Corona-Maßnahmen zu interpretieren. Die Flüchtlingsdebatten der letzten Jahrzehnte riefen ähnliche Endzeitfiguren auf. Zwischen Defizit-Erfahrungen in einer als sinnlos empfundenen Situation und dem unbedingten Willen zu Erneuerung entsteht eine Spannung, die, einmal überdehnt, nach gewaltsamem Bruch strebt. „Wir alle wollen, bei lebendigem Leibe, ins Paradies“, beschreibt Kurt Hiller nach dem Ersten Weltkrieg dieses Zukunftsgefühl.

Für die Wanderprediger damals und heute gilt es, den richtigen Augenblick im „Kampf gegen das Böse“ zu erkennen, so wie Tamara K., als sie zu ihrer „Sturmrede“ ansetzte. Es bedarf schon eines massiven Geltungsanspruchs dafür, die Ereignisse initiativ beschleunigen zu wollen, um, wie sie rief, „heute hier in Berlin Weltgeschichte“ zu schreiben. Diese Situationsmächtigkeit, so Vondung, kennzeichnet apokalyptisches Bewusstsein und befördert die „Tat“ samt den von ihr erzeugten Bildern.

Eines allerdings lehrt die Geschichte der „Inflationsheiligen“: Die meisten dieser „Erlöser“ waren trotz messianischen Eifers so harmlos, wie der instinktsichere Volksdichter Graf es ihnen bescheinigte. Als Hauesser 1920 vor das Leipziger Reichsgericht geladen wurde, so erzählt Linse in seinem Buch, begleitete ihn eine aufgebrachte Masse, die auf ein Zeichen von ihm das Gericht gestürmt und in Brand gesteckt hätte. Es war der Brandstifter Hitler, der sich die politischen Machtmittel aneignete und rücksichtslos nutzte. Und damals wie heute ist es nur eine verschwindende Minderheit, die am Ende die „Erneuerung“ aus der Vernichtung treiben will.

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

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