Uwe Brandl, dem altgedienten Abensberger Bürgermeister, würde dieser Roman vielleicht gefallen. Er lobte in der Hauptstadtpresse kürzlich die Vielfalt Kreuzbergs. Ganz im Gegensatz zu Friedrich Merz. Der hat in Gillamoos, Kreis Abensberg, richtig draufgehauen auf den Kiez. So beschaulich wie in Abensberg geht es im Kreuzberg-Roman, den der Berliner Hörspiel- und Bühnenautor Tim Staffel nach langer Prosapause vorgelegt hat, tatsächlich nicht zu. Der titelgebende Südstern, der Platz um den U-Bahnhof im „bürgerlichen“ Kreuzberg, ist nur so eine Art Koordinate und legt die Spur ins ehemalige SO 36. In den hochverdichteten Wrangelkiez als östlichste Auswölbung des alten Berliner Westens.
Dort performt Pharmakologin Vanessa, „der Engel“, in der Bar ihres schwulen Patchwork-Vaters Andreas, „der Bär“, schwankender Fixpunkt ihres Lebens. Denn eine Zukunft mit dem Abgeordneten Oliver Lompe wird es, wie ihr schwant, nicht geben. Olli ist Drogenbeauftragter seiner Partei, müht sich im Senat um höhere Weihen und „glaubt nicht an das Ja“. Keine Ahnung hat er davon, dass seine Freundin, im Zweitjob offiziell Apothekenkurierin, in seiner gentrifizierten Behausung Drogen hortet und gut getarnt im Kurierdienst vertickt. Die besorgen ihr Andreas aus Amsterdam und ein Apotheker-Freund, der an der Uni so eine Art Schattenlabor unterhält.
Alles keine gute Ausgangslage für eine ernsthafte Liebesaffäre zwischen Vanessa und Deniz Aziz. Der ist im Kiez als Streifenpolizist unterwegs. Im Duo mit seiner kroatischen, ewig Schokobonbons lutschenden Kollegin Jovanna, „Frau Coric“, die auf diese Weise ihre Ängste verdrängt. Keine Traumbesatzung à la Großstadtrevier also, sondern nur eine multikulturelle Zwangsgemeinschaft. Derweil sitzt Deniz’ „Baba“ Markus, der vermehrt an Parkinson-Schüben leidet und auch ein bisschen dement ist, daheim und wartet auf seine Frau Selda, die nicht mehr kommen wird. Ein Lkw-Fahrer hat nicht aufgepasst. In den Doppel- und Dreifachschichten hat Deniz deshalb keine ruhige Minute. Aber irgendwie liebt er seinen Job als „Retter“. Und glücklicherweise gibt es noch Katrin vom ambulanten Pflegedienst, ein anderer „Engel“ im Kiez.
Die Begegnung zwischen Vanessa und Deniz lässt Staffel alternierend aus der Ich-Perspektive erzählen, in einem parataktischen Stakkato, das vor ein, zwei Jahrzehnten von Romandebütanten – in alter neusachlicher Manier – wiederbelebt wurde. Und das oft genug nervt. Doch der 1965 in Kassel geborene Autor, der mit seinem Roman Terrordrom (1998) an der Berliner Volksbühne unter Frank Castorf Theatergeschichte schrieb und mit Rauhfaser (2002) die neuen medialen Techniken prosaisch auslotete, ist kein Verdachtsfall in puncto ästhetischer Moden. Der anfangs gewöhnungsbedürftige, über fast 300 Seiten halbwegs durchgehaltene Rhythmus folgt den von Dreifachjobs und -schichten geprägten Arbeits- und aufreibenden privaten Lebensrealitäten, verdichtet in der nie zur Ruhe kommenden Großstadt. Deniz kommt auf dem Küchensofa kaum zum Schlafen, Vanessa wird von ihrem Doppelleben in Trab gehalten und von ihrem Bruder Felix, der nach seinen Einsätzen als Elite-Soldat, inzwischen „Justizobersekretär“ in der JVA Tegel, selbstmordgefährdet ist.
Wie eine Kamerafahrt
Mit „ich fahre“ fangen viele Kapitel an, und es wirkt wie eine Kamerafahrt durch die Straßenschluchten Kreuzbergs, die Plätze, auf denen die aus ihren Wohnungen oder Ländern Vertriebenen hausen, entlang der Cafés, Imbissbuden und Spätis, von einem Personal betrieben, das unterm Radar der Berliner Erregungskultur existiert. Einigen von ihnen spendiert Staffel ein Schicksal, manche lassen frösteln. Hier gibt es nichts mehr von der Polizei „aufzulösen“ oder von der Politik zu kanalisieren. Olli ist ein Karriereclown, sein Kollege und Konkurrent Hennig, den Vanessa mit Glückspillen beliefert, ein Ritter von der traurigen Gestalt. Vorsichtige Teilbefriedung und geistesgegenwärtiger Rückzug ist das Höchste, was die vor Ort werkelnden Hilfskräfte noch leisten können.
Dabei nimmt Staffel Themen und Motive aus seinen früheren Romanen und Theaterstücken auf: Drogen, Kampfsport und Gewalt, auch rechtsextreme. Angereichert nun vom immer dramatischer werdenden Pflegealltag, vielleicht Erfahrungsausfluss des neuen Lebens des Autors, der sich dem Druck der Lohnschreiberei entzogen hat und inzwischen in einem Herzkatheterzentrum arbeitet. Dass dabei allen Hindernissen zum Trotz ein zartes Pflänzchen namens Liebe gedeiht, so wie zwischen den Kreuzberger Pflastersteinen dies oder jenes Blümchen sprießt, ist lyrische Zutat dieses vor allem dramatischen Talents, das auch einmal Szenische Künste in Hildesheim unterrichtet hat. Südstern mäandert zwischen Prosa und Theater, und man muss ziemlich genau aufpassen, wer spricht.
Manchmal sind Staffel auch ein paar Klischees unterlaufen, wie mit der Oma Zuppe, aber was soll’s! Ein „Fish“, der in Kreuzberg einen Imbiss unterhält und sich von seinem Neffen Puma die Anteile seiner asiatischen Herkunft vorrechnen lässt, macht das wieder wett. Staffel ist jedenfalls ein Kaleidoskop existenziellen Provisoriums zwischen Bullshit-Jobs und generationellem Sandwich-Dasein gelungen, das von keiner soziologischen Studie einzuholen ist. Mehr ist von Literatur nicht zu erwarten. Und Kreuzberg ist irgendwie doch überall.
Südstern Tim Staffel Kanon-Verlag 2023, 287 S., 25 €
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