Vater und Mutter der Pille

Medientagebuch Arte zeigt eine Dokumentation über den österreichischen Forscher und Chemiker Carl Djerassi

Seine Autobiografie trägt den Namen Die Mutter der Pille. Doch was so queer daherkommt, hat bei Carl Djerassi, dem Wissenschaftler, Kunstmäzen und Geschäftsmann, einen tieferen Grund. Als Kind aus Sofia etwas zu spät zur Einschulung nach Wien zurückgekehrt, steckte man ihn statt in den Knabenzweig der Wiener Volksschule zu den Mädchen, bei denen er vier Jahre blieb. Seither, sagt er, fühle er sich unter Frauen wohler. Dafür hat er den Generationen nach 1960 ein großes Geschenk gemacht: die Pille.

Dass der 1923 geborene und 1938 mit seiner Mutter in die USA geflüchtete Chemiker Djerassi nicht nur Cortison und Noresthisteron (das spätere Progesteron) synthetisierte, sondern auch völlig entgegengesetzte Tätigkeitssegmente, zeigt die Arte-Dokumentation von Joachim Haupt. Sie zeigt, wie ein Forscher sein Wissen in die Literatur und auf die Bühne trägt und der Mäzen junge Künstler inspiriert. Die wiederum hinterlassen auf Djerassis Ranch, die dem Film das zauberhafte Kolorit liefert, Symbole der Verbindung.

Porträts, zumal wenn sie so genannte Jahrhundertpersönlichkeiten einzufangen versprechen, neigen zur Devotion. Bei Haupt schimmert immerhin da und dort auch etwas vom Narzissmus des „Workaholic“ durch, und Djerassi spricht offen über seine Lebensbrüche: zwei gescheiterte Ehen, der Selbstmord der Tochter, der Verlust der dritten Frau und die eigene Krebserkrankung. Und manchmal setzt er sich als Wissenschaftler selbstironisch in Szene: 54 Prozent der Schuld an seiner Scheidung habe er getragen. Es sei wohl nicht leicht gewesen, mit einem wie ihm zu leben, und seine Ambitionen haben auf seine Umgebung „giftig“ gewirkt.

Es dauerte lange, bis ihn sein Heimatland Österreich zurückgeholt und ihm in Wien den „Ehrenring“ an den Finger gesteckt hat. Djerassi ist keiner, der vergisst, was ihm angetan wurde. Einen Heimatlosen nennt er sich, einen mit vielen schönen Wohnungen. Oft sitzt er an einem Wasserfall auf seiner Ranch, wo er die Asche seiner Frau und seiner Tochter ausgestreut hat. Intensive Momente, in denen die Orte fressende Kamera zur Ruhe kommt.

Seine wissenschaftliche Leistung sieht Djerassi nüchtern. Nicht die „Hardware“, die Pille, habe die Gesellschaft verändert, sondern diese sei reif für das folgenreiche Verhütungsmittel gewesen. In seiner Autobiografie begegnet einem auch der politische Kritiker – den der Film weitgehend unterschlägt.

Mein Leben Carl Djerassi. Eine Dokumentation von Joachim Haupt. Am 22. August 17.15 Uhr auf Arte

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Geschrieben von

Ulrike Baureithel

Redakteurin „Politik“ (Freie Mitarbeiterin)

Ulrike Baureithel studierte nach ihrer Berufsausbildung Literaturwissenschaft, Geschichte und Soziologie und arbeitete während des Studiums bereits journalistisch. 1990 kam sie nach Berlin zur Volkszeitung, war im November 1990 Mitbegründerin des Freitag und langjährige Redakteurin in verschiedenen Ressorts. Seit 2009 schreibt sie dort als thematische Allrounderin, zuletzt vor allem zuständig für das Pandemiegeschehen. Sie ist außerdem Buchautorin, Lektorin und seit 1997 Lehrbeauftragte am Institut für deutsche Literatur der Humboldt Universität zu Berlin.

Ulrike Baureithel

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