Bekanntheit erlangte die französisch-marokkanische Bestsellerautorin Leïla Slimani hierzulande 2017 mit ihrer Geschichte über eine Pariser Kindermörderin; der Roman Dann schlaf auch du malte ein Sittenbild heutiger Zeit und der Pariser Bourgeoisie. Wonach schmeckt Herkunft? Diese Frage stellt Leïla Slimani in ihrem neuen Buch Das Land der Anderen.
Dass Düfte und Aromen Kindheitserinnerungen wecken, ist ein bekanntes Phänomen. Mehr noch als Farben sind es Gerüche, die uns in das Land der Kindheit entführen. In aktuellen Texten zu Herkunft spielt die sensorische Komponente jedoch kaum eine Rolle. Die Herangehensweise ist meist vom Versuch geleitet, Strukturen zu erkennen, die Soziologie dahinter. Slimani vertraut stattdessen der sinnlichen Erfahrung. Der Biss in eine süß-herbe Frucht lässt den Garten der Erinnerung erblühen.
Frankreich diskutiert heftig
Die Frucht heißt Zitrange und ist eine Kreuzung aus Orange und Zitrone, eine Hybridfrucht, die im Garten von Leïla Slimanis Großeltern wuchs. Slimani spielt mit dieser Zwittrigkeit und bastelt im Französischen ein Wort, das gleichermaßen nach Zitrone und Orange und seltsam Fremdem klingt: citrange und si étrange. Was Marcel Proust seine Madeleine war, ist Slimani die Zitrange. Tatsächlich tauchte die Schriftstellerin in das Leben ihrer Großeltern ein, als sie in Paris am Schreibtisch saß und Marokko schmerzlich vermisste.
Im vorliegenden ersten Teil einer geplanten Trilogie erzählt Slimani das Leben Mathildes, einer jungen Elsässerin, und des Offiziers Amine Belhaj im „Protektorat Französisch-Marokko“ der Nachkriegszeit. Mathilde hadert mit dem Leben auf einer abgelegenen Farm, den strengen Regeln einer Gesellschaft, die ihr fremd ist. Der Rassismus der Kolonialzeit, in der eine Ehe zwischen einer Französin und einem Araber verpönt und ein Skandal war, ist der Grundtenor des Buches.
Das Sujet trifft den Nerv der Zeit. In Frankreich wird heftig debattiert über Postkolonialismus und Rassismus. Während Intellektuelle wie Caroline Fourest einen universalistischen Humanismus vertreten, verteidigen Elsa Dorlin und Assa Traoré den „intersektionalen Feminismus“, der Blick ist bei ihnen auf verschiedene Diskriminierungen erweitert, es geht um Gender, Klasse, Race. Slimani geht es um den schichtenübergreifenden Mangel an Menschlichkeit. In ihrem Corona-Tagebuch, für das sie einen Shitstorm erntete, machte sie keinen Hehl daraus, dass sie aufgrund ihrer bürgerlichen Herkunft Vorteile genießt. Sie heuchelt nicht, sondern unterstützt aus ihrer privilegierten Position heraus literarisch und politisch universalistische Positionen.
Slimanis Roman schöpft aus den Erzählungen der Mutter und Großmutter. Er positioniert sich nicht als Thesenroman, sondern lässt Geschichte als „Oral History“ auf der Zunge entfalten. Dadurch bekommen die fundierten Recherchen zur Kolonialzeit auch eine andere Färbung. Marokko bedeutet im Arabischen Westen, Okzident. Slimanis Marokko ist ein wilder Westen, der auch von der Bildlichkeit amerikanischer Wild-West-Filme geprägt wird. Geleitet von der Idee eines neuen Kaliforniens arbeiten sich Slimanis Figuren an einem arabisch-amerikanischen Traum ab.
Diesem Traum unterwerfen sich auch die Frauen – mit allen Wunden und Narben, die er mit sich bringt. Dennoch fügen sie sich nicht willenlos in ein patriarchalisches System, sondern erforschen eigene Wege, die nicht selten auch Kompromisse erfordern. Pragmatismus ist die Triebfeder von Mathildes Handeln, die eine Heirat arrangiert und zum Islam konvertiert, um staatlichen Schutz zu genießen. Es ist eine vermeintliche Unterwerfung. Männliche Gewalt spießt Slimani gnadenlos auf, ungeachtet kultureller Provenienz. Den Frauen in Das Land der Anderen bleibt etwas Unberührbares, Widerspenstiges: Mademoiselle Fabre – unverheiratet, freigeistig – gibt den jungen Mädchen einen Vorgeschmack auf westliche Freiheiten, Selma versucht der brüderlichen Verfügungsgewalt zu entkommen, Aïcha sieht in Bildung Selbstermächtigung. Nicht jeder Kampf ist von Erfolg gekrönt. Opfer sind Slimanis Frauen jedoch keinesfalls. Sie proben eine unantastbare Rebellion. Unbeugsam sind sie und bewahren sich eine Wildheit, die ihren Ursprung in den Reibungen an der Zivilisation hat: „Mathildes Mutter sagte immer, Schmerz und Scham weckten die Erinnerung an unsere tierische Natur.“
Das Animalische schillert bei Slimani, das Finstere wandelt sich, wird zweideutig, obskur, kaum erklärlich. Eine eigentümliche Faszination geht von dieser Bestialität aus, die sich nicht nur im Alltagsleben, sondern auch im Intimbereich der Figuren zeigt. Während Frauen aus der animalischen Wesenhaftigkeit Kraft ziehen, streben die Männerfiguren nach Zivilisierung und hadern stark mit dem vorgezeichneten Weg. Versteckte Homosexualität wird thematisiert, traditionelle Männerbilder werden infrage gestellt. Slimanis Stärke ist es, die aufgeworfenen Fragen nicht zu beantworten, sondern in die Geschichte hineinwirken zu lassen.
Wer verdrängt wen?
Amine Belhaj beäugt seinen Zitrangenbaum misstrauisch. Die Welt der Menschen sei der Botanik vergleichbar: „Am Ende würde eine Art dominieren, die Orange würde eines Tages die Zitrone verdrängen oder umgekehrt, und der Baum würde wieder essbare Früchte tragen.“
Diesem Vertrauen auf eine natürlichen Entwicklung der Dinge mag man skeptisch gegenüberstehen. Für Slimani aber ist diese Zuversicht eine Haltung, die ihre Sozialkritik nicht in Bitternis umschlagen lässt. Emmanuel Macron ernannte Slimani zur „Botschafterin für Frankophonie“. Einen imperialistischen Anspruch sieht sie darin nicht. In Gesprächen lässt sie immer wieder eine Leichtigkeit im Umgang mit ihrer Bikulturalität erkennen. Im unverbrüchlichen Glauben an die Werte der französischen Republik und in Chancengleichheit sieht sie den Schlüssel zur Veränderung. Slimani ist Feministin, dezidiert universalistisch, in erster Linie aber ist sie Schriftstellerin mit jeder Faser ihres Körpers, jeder Geschmacksknospe ihrer neugierigen Zunge.
Info
Das Land der Anderen Leïla Slimani Amelie Thoma (Übers.), Luchterhand 2021, 384 S., 22 €
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.