In Zeiten wie diesen schluckt sich dieser Satz wie eine Wunderpille gegen Panikattacken: „Bernard kuriert sich mit einer hohen Dosis Poesie. Das beste Neuroleptikum.“ Ob die Wirkung eintritt, bleibt abzuwarten, einen Versuch aber ist es wert. Placebo-Poesie tut dem gebeutelten Menschlein zweifelsohne so wohl wie Kunsttherapie samt Sensitivitätsmalerei. Xavier-Marie Bonnots Der erste Mensch wirbelt unser Kunst- und Psychiatrieverständnis mindestens so durcheinander wie der Mistral die azurblauen Wellen vor der Küste Marseilles.
In einer Unterwasserhöhle erleidet der erfahrene Archäologe und Taucher Rémy Fortin eine lebensgefährliche Dekompression. Seine letzten Fotos zeigen eine Hirschkopfstatue und den Schatten einer riesigen Gestalt. Hauptkommissar Michel de Palma versucht dem ungewöhnlichen Unfall auf die Spur zu kommen und taucht dabei nicht nur in prähistorische Schattenreiche ein, sondern auch in die düsteren Gemäuer französischer Psychiatrien. Schlüsselfiguren sind die Geschwister Thomas und Christine Autran, die bereits seit Kindesbeinen mit den Mysterien der Ur- und Frühgeschichte vertraut sind. Während sich Christine zu einer renommierten Forscherin entwickelt, landet Thomas als Frauenmörder in der Psychiatrie, was wieder einmal zeigt, wie nah Genie und Wahnsinn beieinanderliegen. Überhaupt ist de Palma ein Grenzgänger, der uns die Selbstverständlichkeit der – gerade in der Psychiatrie – christlich-jüdischen Vorstellungswelt permanent infrage stellen lässt. Er selbst, der „Baron“, ist dabei Avantgarde. Aufgewachsen in einem Viertel, in dem nach zahllosen industriellen Pleiten „die letzten Prolos (...) eher braun gefärbt waren“, ergötzt er sich an französischen Tenören und versucht irgendwo in dieser irren Welt ein „Asyl der frommen Einfalt und der keuschen Unschuld“ zu finden. Nicht selten liegt dieses zwischen gehackten Zwiebeln und Lammschulterstücken mit Safran, Zimt und Ingwer. Diesem feingeistigen Melomanen, der in der Geschichte des Geschwisterpaares eine frappierende Ähnlichkeit mit der Tragödie von Elektra und Orestes zu erkennen glaubt, fliegen die Gewissheiten um die Ohren, mit der Wucht einer Unterwasserexplosion. Die Schockwellen sind gewaltig, wenn traditionelle Erklärungsmuster nicht mehr genügen und griechische Dramen mit archaischen Denkfiguren konkurrieren. So sucht Thomas, der Mörder, den Ärzte als schizophren und paranoid bezeichnen, nach einem „anderen Menschentum“, sehnt sich nach einem Leben wie vor der neolithischen Revolution, ohne Viehzucht und Besitz. Ein Gedanke, den schon die „Green Anarchy“-Bewegung um John Zerzan umtrieb: Ohne Eigentum kümmert sich der Mensch nur um sein Glück! Utopia auf dem Meeresgrund also? „Der Weg vom Menschen zum wahren Menschen führt über den verrückten Menschen“, meinte schon Michel Foucault. Bonnot führt uns die Hybris der Psychiatrie vor und versenkt kunsthistorische Wahrheiten im Meeresgrund.
Hinauf in die Höhen von Van Goghs Sternennacht bewegt sich Leif Karpes Der Mann, der in die Bilder fiel. Auch hier geht es um die mystische Dimension von Kunst, allerdings in einer intimeren, seelenmagischen Variante. Peter Falcon, einem Vinyl- und Comic-Verkäufer, könnte ein ähnliches Schicksal beschieden sein wie Virginie Despentes’ Vernon Subutex: vom Loser zum Guru. Falcon allerdings hat ein besonderes Talent, das ihn zum begehrten Experten der hochkommerziellen Kunstwelt macht. Sein alter Kumpel Charles, inzwischen Top Guy in der Abteilung Kunstfälschungen eines Super-duper-Auktionshauses, heuert ihn wegen seiner Fähigkeit an, das „Wesen eines Bildes“, „mit einer Berührung“ dessen Seele zu erfassen. „AU-THEN-TI-ZI-TÄT“ sei das Gebot der Stunde. In einem Markt, in dem das Geld sprudelt wie in keinem anderen, sind außerordentliche Qualitäten bare Münze wert. Wahres gegen Bares funktioniert aber nur, solange klar zwischen Fake und Original unterschieden werden kann. Was aber, wenn „Fake“ auch nur ein Begriff ist, den der Markt erfindet, um horrende Gewinnspannen zu garantieren? Der Begriff der Echtheit erscheint dann wie ein impressionistisches Bild, das sich im Auge des Betrachters erst zur Wahrheit fügt.
Falcon wird nach Paris abbeordert, um das Auktionshaus vor einer Blamage und hohen Verlusten zu schützen. Der Gute stellt sich allerdings reichlich trottelig an, verliebt sich natürlich in eine süße Französin und plumpst nicht nur in Bilder, sondern vor allem in Fettnäpfchen. Er begegnet kuriosen Gestalten, dem zwielichtigen Fälscher Legros, der klugen Kunstkritikerin Blumenstihl, und schlemmt sich klischeehaft durch Montmartre, wie es sich ein chinesischer Kopist nicht besser vorstellen könnte. Das hat Charme, das genießt sich wie ein Rosé, der uns am nächsten Morgen mit Migräne bestraft. Der tollpatschige Falcon wird – hélas! – hineingebeamt in ein doch etwas kitschiges Setting. Das ist Entertainment, literarisch allerdings gelegentlich zum Haareraufen: „Kunst ist Laster, man heiratet sie nicht legitim, man vergewaltigt sie.“ Darauf einen Pastis zum Musette-Walzer! Padam, padam!
Apropos Kunst, apropos Fälschung: „Florence wie Fälschung“, heißt es da. „Und du bist echt?“ Tja, wer kann das schon von sich behaupten? Wer will das schon sein? Die Geschichte der Literatur ist voll von Lügnern und Betrügern, von Scharlatanen und Hochstaplern, die sich selbst zum Kunstwerk adeln. Meist sind es Männer, gutaussehende noch dazu, die betören mit dem, was sie nicht sind und niemals sein werden. Thomas Manns Felix Krull zum Beispiel. Wir bewundern ihn und lieben ihn dafür, dass er seiner Zeit mit seinem Karneval der Identitäten den Spiegel vorhält. Mercedes Rosendes Falsche Ursula ist weder männlich, noch ist sie ästhetisch Felix Krulls Pendant. Ursula ist unzufrieden, einsam und immer hungrig. So hungrig, dass man beim Lesen glaubt, die Finger klebten an fetten Teigtaschen und mit Karamell gefüllten, mit Walnüssen bestreuten Schokoladentorten. Schwer verdaulich, wäre da nicht auch der Duft nach Limette, Kardamom und Bergamotte, den unser olfaktorisch hochbegabtes Schwergewicht mit vibrierenden Nasenflügeln erhascht, wo es geht und steht. Das Buch der uruguayischen Schriftstellerin beginnt träge, entwickelt sich dann aber mit bombastischer Boshaftigkeit. Ursula wird durch einen Anruf aus ihrem lethargischen Dasein gerissen. Ein Quidproquo, das zu urkomischen Folgen führt. Einen Ehemann soll sie aus den Fängen von bedauernswert unfähigen Entführern befreien. Nicht ihren Ehemann. Es lügt und betrügt sich vor dem Luxusgrill im Rosenhain, dass es ein wahres Fest ist. Manchmal braucht es im Leben erst eine Gelegenheit, um der Welt zu zeigen, wer man ist. Plötzlich ist da mehr Faible für Revolvergriffe statt dafür, das Süppchen auf dem Herd köcheln zu lassen. Sei du selbst? Höchste Zeit, diesem Mantra eine Prise Fake zu gönnen!
Info
Der erste Mensch Xavier-Marie Bonnot Gerhard Meier (Übers.), Unionsverlag 2020, 352 S., 19 €
Der Mann, der in die Bilder fiel Leif Karpe Nagel & Kimche 2020, 272 S., 22 €
Falsche Ursula Mercedes Rosende Peter Kultzen (Übers.) , Unionsverlag 2020, 208 S., 18 €
Metamorphosen
Die Serie, aus dem das hier gezeigte Bild stammt, entstand in einer „dunklen Phase“ des Lebens von Fotograf Yorgos Yatromanolakis. Er leistete seinen Pflichtdienst in der griechischen Armee und empfand diese Periode als Widerspruch zu seiner Persönlichkeit. Naturwanderungen halfen ihm, Frieden zu finden. Übergreifend in der Serie The Splitting of the Chrysalis and the Slow Unfolding of the Wings ist das Thema der Metamorphose, für Yatromanolakis ebenfalls ein sehr persönliches Thema. Zur Zeit der Griechenlandkrise im Jahr 2008 glaubte er an eine baldige Transformation der Gesellschaft. Der Titel der Reihe ist an den Lebenszyklus des Schmetterlings angelehnt, in dem das Insekt bekanntermaßen einen beeindruckenden Wandel durchlebt. https://www.yatrom.net/
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.