Der koloniale Blick kann manchmal so vergiftet sein wie ein Curare-Pfeil. Er dringt in das Opfer ein, lähmt es und tötet. Die europäische Sicht auf indigene Völker speist sich entweder aus Erzählungen von teuflischen „indios bravos“ oder dem Bild des „Edlen Wilden“. Wenn der Tiroler Jesuit Niclutsch im 18. Jahrhundert die Amazonas-Bewohner als „eine Schar abscheulicher Teufel in menschlicher Gestalt“ beschreibt, so ist das nicht weniger hanebüchen als Jean-Jacques Rousseaus Imagination des reinen, von Natur aus guten Menschen, dessen Geist unberührt von der Verderbnis der Zivilisation ist. Mit der Teratologia entwickelte man eine rassenideologische Lehre von den Ungeheuern, in der alle von der europäischen Vorstellungswelt abweichenden Wesen als Monster und Feinde ausgewiesen wurden. Sensualisten und Romantiker hingegen überhöhten aus Abscheu vor Dekadenz und Doppelmoral die „Wilden Leute“. Beiden Sichtweisen ist ein Protektionismus eigen, der indianischen Kulturen das Recht auf Selbstdarstellung verweigert. Der Wunsch, sich eine Projektionsfläche für das gute und richtige Leben zu schaffen, verstellt den Blick auf das Andere ebenso wie die Dämonisierung. Er lässt die Sehnsucht aufkeimen, einmal in die Haut eines Indios zu schlüpfen und dem unseligen Othering ein Schnippchen zu schlagen.
Wie der Biss einer Ameise
„Being Madarejúwa“ – dieses Abenteuer ermöglichen uns der Journalist Thomas Fischermann und Madarejúwa Tenharim mit „Der letzte Herr des Waldes“. Auf mehreren Expeditionen begleitete Fischermann den jungen Krieger des traditionsreichen Amazonas-Volkes der Tenharim. Erlebnisse und Gespräche zeichnete er in der Ich-Perspektive seines indigenen Begleiters auf. Mit dem Titel scheint das Terrain bereits abgesteckt: Der „letzte Herr des Waldes“ („Ein Indianerkrieger aus dem Amazonas erzählt vom Kampf gegen die Zerstörung seiner Heimat und von den Geistern des Urwalds“) lässt eine ökologisch korrekte Version von Coopers „Der letzte Mohikaner“ vermuten. Schamanen und Göttern sei Dank, löst der Roman dieses Postulat nicht ein.
Das Buch wirkt vielmehr wie der Biss der „tuka’ndyra“, einer kleinen schwarzen Ameise. Es tut weh, weil man seine eigenen Gewissheiten infrage stellen muss, aber danach wird der Geist klarer. Es ist im besten Sinne bewusstseinserweiternd.
Das Buch ist ein Plädoyer für die Verteidigung der Heimat, des Landes, dessen Gerüche, dessen Geschmack, dessen Gefahren und Möglichkeiten uns zu den Menschen machen, die wir sind. Es ist auch eine Anklage gegen den Staat Brasilien, der sich zum größten Waldvernichter der Welt entwickelt hat. Es ist aber auch Tagebuch und Zeichnung der Seelenlandschaft eines Jugendlichen, der im Spannungsfeld zwischen zivilisatorischen Veränderungen und Naturverbundenheit aufwächst. Madarejúwa ist Krieger, ein disziplinierter, schlauer Kämpfer, der seine Strategien und Taktiken an den Stärken und Schwächen der Gegner ausrichtet. Den Jaguar erlegt er mit dem Pfeil in der Nähe des Herzens und der Lunge. Vor der Anakonda hingegen schleicht er sich am besten leise davon oder rettet sich auf einen Baum, wo er in Ruhe über eine Tötungsart nachsinnen kann. Einen Eisennagel in die Augen stechen? In den Rachen schießen? Am besten kommt man ihr erst gar nicht in die Quere! Man lernt ihre Sprache und lässt sich nicht vom verlogenen Tapir-Lockruf der Anakonda hereinlegen. Man achtet auf ihren Hofstaat: Gelbe und weiße Schmetterlinge umschwärmen sie.
„Survival of the smartest“ am Amazonas funktioniert nach tradierten Regeln, „Sense“ und „Sensibility“. Der Umgang mit rücksichtslosen Holzfällern, gierigen Unternehmern und trägen Beamten erfordert hingegen neue Strategien. Die Tenharim nutzen die Medizin der Weißen, um deren Krankheiten zu bekämpfen, hüten jedoch auch das eigene Wissen: Anakondaöl statt Jod, das Harz des Drachenblutbaums gegen Entzündungen. Dem illegalen Abholzen treten sie mit Wegzöllen, der Indianerschutzbehörde und in extremis auch mit Gewalt entgegen. Die Tenharim sind Krieger. Ein Tenharim kennt keine Angst, denn „Angst hilft dir nicht im Wald“. Madarejúwa fürchtet sich nicht vor dem Tod: „Ja, ich kann sterben, ich kann mich verletzen. Was passiert, passiert. Wir weinen deswegen nicht – nicht so, wie andere weinen, die nicht zu meinem Volk gehören.“
Die Sprache der Träume
Aus diesem Satz spricht nicht die Verachtung des Gefühls, sondern eine Haltung, die man als einen mit Stolz gepaarten Pragmatismus bezeichnen könnte. Sie zeigt sich auch in Madarejúwas Art, zu reisen, nie ohne seinen Federschmuck, gern aber auch mit Handy. Immerhin kann man, falls das Internet funktioniert, auch posten. Keine Selfies, vielleicht aber ein Anakondaloch mit einem Tapirskelett. Madarejúwa weiß, dass er an einem Wendepunkt steht: „Ich glaube, wir Tenharim müssen uns auf zwei Dinge vorbereiten, auf ein Leben in unsrer Kultur und ein Leben mit der ,sociedade‘. Ich bin ein Jäger, aber ich träume davon, auch Geld zu verdienen.“
Der Unterschied zu jedem Halbwüchsigen am Ufer der Spree ist das Wissen um die Herkunft. Madarejúwa kennt jede einzelne Pflanze im Wald, hat gute Aussichten, ein „Meister der Kultur“ zu werden, der Pflanzenkunde genauso beherrscht wie die Herstellung tödlicher Pfeile. Vielleicht sollten wir Madarejúwa einladen in unsere Wälder, auf unsere Wiesen und Diptam, Mädesüß und Blutweiderich erkunden lassen. Vielleicht sollten wir sie lernen, der Tenharim „Sprache der Träume“. Vielleicht sollten wir Dinge erzählen, die nicht in der Gegenwart passieren, aber auch nicht ganz vorbei sind, anstatt die Insel der Glückseligen herbeizufabulieren.
Der letzte Herr des Waldes Madarejúwa Tenharim und Thomas Fischermann C. H. Beck 2018, 205 S., 19,95 €
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