Elf war ich, als mir mein Vater Anna Karenina in die Hand drückte – mit einem vielsagenden Blick. Hätte er mir doch Agatha Christie gegeben oder diesen Scaramouche, ja! Immer einen Scherz auf den Lippen, stets bereit zu einem Scharmützel! Stattdessen, wieder ein Russe! Lustlos blätterte ich in dem viel zu dicken Band, überflog ein paar Seiten, sog mich an dem ein oder anderen Begriff fest, bis sich ein Bild formte, das Bild einer wilden, romantischen Frau. Mitten in mein Mädchenherz traf der Satz: „Liebe und Freiheit schließen sich aus.“
Liebe spielte zunächst jedoch keine Rolle. Mein Vater hielt es für geboten, meine éducation sentimentale auf Tolstoi zu beschränken und mich mit den materiellen Bedingungen vertraut zu machen. In einem postnazistischen mittelfränkischen Dorf, an dessen Stammtischen sich dickwanstige Bauern der Zeiten rühmten, als die Synagoge brannte, galt es Haltung zu bewahren. „Pharisäer! Verlogene Bagage“, täglich bekam ich von meinem Vater eine Philippika auf Stumpfsinn und Unterwürfigkeit zu hören, gefolgt von der paradoxen Warnung: „Bloß kein Außenseiter werden!“ Mein Vater lebte das Gegenteil. Er war verschrien als Exzentriker und Kommunist, las die Peking Rundschau, bekam Post aus Russland, flog zu Radio Moskau ... Nachdem er seine Autowerkstatt wegen einer schweren Herzerkrankung aufgeben musste, fuhren wir mit dem Kreuzfahrtschiff Odessa auf die Krim. An Bord saßen wir am Captain’s Table. Die Stewardessen nähten Kleider für meine Puppen und ich bekam eine Balalaika geschenkt. Russische Musik und Literatur waren mir so vertraut wie den anderen Kindern deutsche Volkslieder. Anstelle lieblicher fränkischer Landschaften malte ich den Sonnenuntergang am Jangtsekiang.
Meine Mutter aber sehnte sich nach Normalität, nach Leichtigkeit. Unverständnis für den intellektuellen, aber gescheiterten Proletarier machte ihre Ehe im Laufe der Zeit zur Hölle. Was blieb, war ich, die Tochter, als Hoffnungsträgerin der eigenen Sehnsüchte. Schon früh brachte sie mir bei: Über Geld nicht zu sprechen, muss man sich leisten können. Wir konnten es nicht. Auf unserem Speiseplan stand Milchsuppe mit Salz und Brot. Tagsüber arbeitete die Mutter als Hilfskraft in einem Büro, abends putzte sie, während mein Vater Bücher kaufte und Kameras, Reisen plante in sozialistische Länder. Dass der Minimallohn meiner Mutter dafür nicht ausreichte, war mir als Kind nicht klar. Erst nach dem Tod meiner Eltern fand ich ein Buch im Keller auf der Werkbank, wie ein Augenzwinkern meines Vaters: Handbuch für Spione.
Mein Leben fand statt zwischen zwei Polen, dem Katholizismus, der Sehnsucht nach Geld und Anerkennung seitens der Mutter sowie der Mesalliance aus Rebellentum und Autoritätsgehorsam des Vaters. Ich wurde eine Außenseiterin, die in Tolstois Welten träumte.
Die nächsten Jahre schlug ich freilich keines der Bücher mehr auf, die mein Vater mir auf den Tisch legte. Ein einziger Mensch sollte jahrelang mein Leben bestimmen. Vergewaltigung. Jahrelanger Missbrauch durch den Vater meiner besten Freundin. Das Kind Ute erschuf sich parallele Welten, erträumte sich die Zukunft: Ute, erfolgreich, geliebt und liebend wie in einem russischen Roman. Es konnte nicht sein, es durfte nicht sein, dass dieser Mensch lebenslang Macht über mich gewinnen sollte!
Die bayerische Omertà
Über allem Schweigen. Man machte seine Sorgen mit sich selbst aus. Hatte gelernt, sich der bayerischen Omertà zu beugen. Gewachsen war ich diesem Druck in früher Jugend selbstverständlich nicht. Da war die Sehnsucht, endlich auszubrechen. Erst als ich meinen Freund Jens kennenlernte, fühlte ich mich frei, sicher. Jens liebte mich, wie es im Buche stand: „Den Typen killen wir, der dir das angetan hat“, sagte er und nahm eine Nase Speed. Plötzlich war ich in einer Welt, die anders war, es war ein Rausch. Kurz vor dem Abitur folgte ich meinem Instinkt: keine Drogen mehr! Raus aus dem Elend, der Resignation.
Ein Stipendium! Als ich in die elitäre „Studienstiftung des deutschen Volkes“ aufgenommen wurde, taumelte ich vor Glück. Ich stürzte mich in ein Studium der Linguistik in Erlangen und Florenz, ergötzte mich an altfranzösischen Heiligenviten, verschlang Wittgenstein und Derrida. Die Welt stand mir offen. Egal, wie absurd die Objekte meiner literarischen Begierde waren, als Stipendiatin der Studienstiftung standen mir alle Türen offen. Es folgte der erste Job als Kommunikationsberaterin bei einer renommierten Unternehmensberatung in Düsseldorf. Lenins Ziehtochter im Dienste des Kapitals!
Es sollte eine Übergangslösung sein. Wurde es auch. Bei einem Meeting lernte ich einen Franzosen kennen, der mich betörte mit Gedichten von Rimbaud, Rosen, einem Heiratsantrag, dem Versprechen ewiger Liebe. Anna Karenina? Ja, aber nur die Leidenschaft! Dieser Mann würde mich nicht verraten. All meine Hoffnungen auf emotionale Sicherheit, meine kindliche Romantik projizierte ich auf ihn. Was war schon Freiheit gegen „La vie en rose“? Ich kündigte und zog zu ihm nach Paris.Schnell kam die Ernüchterung. Beruflicher Erfolg zählte nichts. Der Druck der patriarchalen Familie meines Mannes verstärkte sich gleich nach der Heirat. Kinder, ein Sohn, dem Mann den Rücken stärken – darin bestehe die Aufgabe der Frau.
Nach der Geburt meines Sohnes erhielt ich einen Anruf von einer bekannten Werbeagentur, bei der ich mich beworben hatte. „Kommt überhaupt nicht infrage“, sagte der Mann, „du hast ein Kind, arbeitest für mich und brauchst keinen Achtzig-Stunden-Job in einer Werbeagentur.“ Ich wollte ihn nicht verlieren, fügte mich. Ein schmerzhafter Verzicht.
Mein Freisein beschränkte sich fortan auf die freiberuflichen Projekte. Unterricht in Deutsch und Verhandlungsführung an französischen Hochschulen, nachts schrieb ich Artikel und Proposals für meinen Mann, der Unternehmensberater war. Als mein Sohn eineinhalb war, fing ich bei der UNESCO an. Ein Traum! Ein Traum, der in einem Albtraum endete. Korruption und Geldverschwendung waren an der Tagesordnung. Der UN-Apparat erschien mir als ein Versorgungssystem für Rich Kids und faule Beamte. Zusammen mit einer japanischen Kollegin, die Fälschungen der Personalakten aufgedeckt hatte, kündigte ich.
Lieber wollte ich mit meinem Mann eine eigene Firma aufbauen. Inzwischen hatte er Kontakte zu Investmentbankern aufgebaut, die mir einen Stiftungsposten und ihm eine hohe Position in Aussicht stellten. Es war ein größenwahnsinniges Unterfangen, das mit der Finanzkrise endgültig scheiterte. Von diesem Moment an zerstob mein Leben zu tausend Fetzen. Der Traum von der Heiligen Familie und einer Stiftungsgründung mit den Gewinnen der Firma löste sich in Luft auf. Mein Mann verkraftete das Scheitern nicht, betrog mich mit einer wohlhabenden Frau, lebte im Jetset, vergaß unsere Ideale und klammerte sich an ein neues Heilsversprechen.
Er schickte die Kinder und mich nach Berlin, ließ mich in dem Glauben, dass er mit uns hier leben würde, obwohl er bereits mit einer anderen Frau zusammenwohnte. Da saß ich nun mit zwei Kindern, verlassen. Ich stürzte in eine tiefe Depression, landete am Nullpunkt, der ein neues Leben so unwahrscheinlich wirken ließ wie Christi Himmelfahrt, die Wiederauferstehung der UdSSR oder die Bekehrung der Vereinten Nationen zu einer effizienten Organisation im Dienste des Gemeinwohls. Nichts war mehr da von dem, worauf ich meine Zukunft gebaut hatte. Kein Job, keine Liebe, keine Familie. Mein Selbstwertgefühl war zusammengeschmolzen.
Ich erschrieb mich neu
Dann klopfte ich eine Schicht nach der anderen frei. Erst als ich mich löste von den Erwartungen, die zeitlebens auf mich gerichtet gewesen waren, war ich wieder handlungsfähig. Mein ideales Leben war nicht mehr existent. Ich hatte nichts zu verlieren. Mein Scheidungsanwalt trieb mich an mit einem klaren Satz: „Männer schätzen ihre Frauen erst wieder, wenn sie kämpfen.“ Ich kämpfte also mit harten Bandagen. Wir einigten uns finanziell und fanden auch menschlich einen Modus Vivendi. Der erste Schritt zur Gesundung.
Eine Wiederauferstehung als Phönix aus der Asche brauchte aber Zeit, Geduld und die Einsicht: „You can’t always get what you want, but if you try sometimes ...“ Zuallererst musste ich Abstand nehmen von meinem Perfektionismus. Superwoman? I give a shit on it! Ich begann mich zu häuten, mein Schwarz-Weiß-Denken über Bord zu werfen. Liebe, eine Himmelsmacht? Ja, aber nicht ohne meine Freiheit! Und dann begann ich mich zu erschreiben. Buchstabe für Buchstabe formte ein Bild von mir, bedeutete einen Schritt in die Freiheit. Tag und Nacht saß ich an Texten. Das war und ist ein Knochenjob, ich musste neue Kontakte knüpfen, weil ich auf alte Verbindungen nicht bauen konnte. Vertrauen musste ich wieder erlernen und meine in der Kindheit bereits eingepflanzten Ideen von Liebe und Selbstbestimmung neu gestalten. Dass es anderen Frauen ebenso erging, bestärkte mich darin, selbst Netzwerke zu basteln. Ich wurde wieder mutiger, preschte nach vorn, trat auch meinen Kindern gegenüber nicht nur als Mutter, sondern als kämpfende Frau auf.
Der Tag, als ich meinen Roman Satans Spielfeld gedruckt in Händen hielt, war ein Wendepunkt. Ich wusste, dass ich meine Geschichte von Liebe und Freiheit neu erfinden konnte. Mit 50 eine Zukunft erschaffen als Schriftstellerin, Journalistin, Kommunikationsberaterin – allen Widernissen und Wronskis zum Trotz!
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