„Schöne Narbe“

Bleiern Julian Charrière erweitert seine Sinne, mag das Dunkle und erkundet Atomtestgebiete
Ausgabe 37/2018

Er ist das „enfant délire“ der Kunst. Ein Hirsch diente ihm für verstörend schöne Aufnahmen aus Tschernobyl. Vom Bikini-Atoll brachte er Kokosnüsse mit, die er in Blei gießen ließ. Ein Gespräch mit Julian Charrière über die mythische Ästhetik, die dystopischen Landschaften innewohnt, „vielleicht, weil der Tod nah ist“.

der Freitag: Herr Charrière, von welchem Trip kommen Sie gerade zurück?

Julian Charrière: Aus Nordmexiko. Zusammen mit Julius von Bismarck habe ich dort die Ausstellung I’m afraid I must ask you to leave für das Kunstpalais Erlangen vorbereitet. Es geht um Naturgebiete, Naturwunder. Es geht darum, wie Nationen Landschaften instrumentalisieren, um Identitäten zu schaffen. Das Matterhorn ist ein gutes Beispiel, wie eine Landschaft zum Symbol einer Nation wird. Selten wird klargestellt, dass Natur nur ein Konstrukt ist. Das Bild des Fuji ist heute ein ganz anderes als vor zweihundert Jahren. Was wir als Wirklichkeit wahrnehmen, ist abhängig von der Kultur, der Zeit, den Umständen, also auch nix anderes als eine Fiktion.

Zur Person

Julian Charrière wurde 1987 in der französischen Schweiz, in Morges geboren. Studium bei Ólafur Elíasson. Seine Arbeiten waren in zahlreichen internationalen Ausstellungen vertreten, unter anderem 2017 in der Hauptausstellung der Biennale in Venedig

Die gute alte Dichotomie „Natur und Kultur“ gilt nicht mehr?

Richtig, der westliche Blick auf Natur bedeutet Trennung. Das haben wir von der Romantik geerbt. Wir haben uns von der Natur getrennt als Betrachter. Die Denkwerkzeuge, mittels derer wir unsere Realität registrieren, stammen immer noch aus dem 19. Jahrhundert. Wir müssen diesen Rucksack der Romantik ablegen. Unsere direkte Umgebung ist nicht mehr in Laufdistanz, unser Wirkungsradius ist planetar. Deshalb genügt das alte Prisma der Romantik nicht mehr.

„Dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnisvolles Ansehen und dem Endlichen einen unendlichen Schein geben“, schrieb Novalis. Sind Sie nicht doch Romantiker?

Ich glaube nicht, dass dieser Satz die Romantik-Ära in ihrem Kern trifft, aber er beschreibt meine Arbeit relativ gut. Ich glaube an die Kraft der Bewunderung. Wir leiden an der reinen Beschreibung. Es ist eine Frage der Maßstäbe: Die Erde verkleinert sich, der Körper vergrößert sich. Heute ist der Mensch überall, selbst wenn er inaktiv ist, hat er globale Auswirkung.

Wie wichtig sind Abenteuer, sind Reisen in Ihrer Kunst?

Reisen ist ein essenzieller Teil meiner Arbeit geworden, ich beschäftige mich in erster Linie mit Umwelt im Sinne von Territorium, Umgebung. Der Moment des Erkundens ist mir wichtig. Heute ist es eher so, dass Akademiker über ein Objekt reden, ohne es gesehen, erlebt zu haben. Das ist ein Dilemma der zeitgenössischen Kultur. Als persönlichen Drive mag ich beispielsweise Tiefseetauchen oder Fallschirmspringen; Situationen, in denen man sich lebendiger fühlt, weil vielleicht der Tod nah ist.

Die „Schwarze Romantik“ verehrte das Schaurig-Schöne. Fasziniert Sie das Dunkle?

Ich bin fasziniert von der Widersprüchlichkeit der Menschheit. Schönheit und Dystopie, ich pendle immer dazwischen, das Dunkle ist natürlich äußerst interessant.

Die Natur mutiert zur alienhaften Schönheit in Ihren Bildern. Ist das eine Auflehnung gegen das Bild der unberührten Natur?

Ich sehe die Schönheit der Narbe. Man muss im Widerspruch stehen, auch zerstören, um kreativ zu sein. Man kann auch die Schönheit sehen von Plastikbeuteln, die an Kakteen ankern inmitten der Wüste von Mexiko. Die Schönheit im Schrecklichen!

Ist das post-romantisch?

Ich bin kein Fan von „post-post“, aber wir sollten das romantische Fernglas ändern. Post ist immer mit Vergangenheit verbunden.

Ist Ihre Kunst die Konsequenz der beispiellosen Umweltzerstörung, deren Zeugen und Urheber wir sind? Im 19. Jahrhundert, als die Wälder abgeholzt wurden, entstand die Naturmalerei.

Wird man vielleicht später so sagen können, aber das ist ein Diskurs der Zukunft. Eigentlich war es im 19. Jahrhundert eher andersrum: Weil die Naturmalerei sich verbreitet hatte, wurden die Wälder abgeholzt. Schlussendlich geht es da wieder um Maßstäbe. Wir agieren in unterschiedlichen Skalen, ohne sie richtig verstehen zu können. Der Mensch ist limitiert in seiner Wahrnehmung. Ich bin natürlich von unserer Gesellschaft geprägt und beeinflusst. Revolutionär bin ich nicht; das hieße, aus nichts etwas zu machen. Kunst ist ein Tool der Ermittlung.

„As We Used to Float“ heißt das Projekt, für das Sie in Kürze den Gasag-Kunstpreis erhalten werden. Worum geht es da?

Die Ausstellung ist das Ergebnis von drei Jahren Auseinandersetzung mit Atomtestgebieten. Ein Film handelt von einem„Atomic Aquarium“, in dem die Zeit aufgebrochen wird. Die Ausstellung wird erweitert durch eine Non Fiction Novel über die Reise nach Bikini, einem Doppelband mit Raumcharakter über radioaktive Bilder aus Kasachstan und Bikini, schließlich einem Event im Berghain, wo die Premiere von Invitation to Disappear stattfindet.

Ist Ihre Kunst der Versuch einer Wiedergutmachung? Auf dem Bikini-Atoll möchten Sie ein Monument errichten.

Nein, das hat nichts Moralisches. Das Monument wäre eher wie ein Earth Work in der Manier der Land Art der späten 60er Jahre. Ich wollte Kokosnüsse in Blei gießen, Sarkophage für die verseuchten radioaktiven Kokosnüsse schaffen. Damals waren ja Bleiumhüllungen, Bunker, die Gefäße der Kamera. Kaum einer hat ja Bikini gesehen, man kennt das nur aus Filmen.

Blei! Sie arbeiten mit gefährlichen Materialien.

Ach, das ist doch kein Drama. In Kasachstan musste ich mich auf Wodka trinkende Kasachi-Soldaten verlassen, als der Geigerzähler nonstop piepte. Was ich mitgebracht hatte, war aber kein Plutonium, sondern nur von der thermonuklearen Sprengung leicht bestrahltes Material. Das setzt einen einer geringeren Menge Radioaktivität aus als ein Transatlantikflug.

Speziell in der Physik gibt es zwei Richtungen: die klassische und die romantische Wissenschaft. Einstein sagte: „Wer sich nicht länger wundern, nicht länger in verwirrter Ehrfurcht dastehen kann, der ist so gut wie tot.“ Was verwundert Sie?

Ich bin auf jeden Fall auf seiner Seite. Tausend Sachen wundern mich. Mich verwundert zum Beispiel jedes Mal, wenn ich dort vorbeikomme, dass die Leute eine halbe Stunde in Kreuzberg vor Mustafa’s Gemüse Kebab anstehen. Da bin ich manchmal sogar traurig oder wütend …

Ihre Werke haben immer auch etwas Spirituelles, Psychedelisches. In Weißrussland setzten Sie einem Hirsch eine Kamera auf das Geweih …

Die Erweiterung von Wahrnehmung habe ich natürlich auch selbst ausprobiert. Ich bin eher ein Ultra-Kontrollfreak, aber ich kann mich auch total abschalten, etwa allein in einem komplett abgedunkelten Raum mit psychoaktiven Substanzen ohne visuelle Ereignisse. Du gehst da tief in dich rein.

Der Film „An Invitation to disappear“ ist ein Streifzug durch eine Palmölplantage, mit Technobeats und Electronics unterlegt …

Palmölplantagen, das ist eigentlich Architektur, kein Dschungel, eher eine Kathedrale, aber du hast Dschungelgefühle, weil diese Palmen archaisch, prähistorisch wirken. Wir sind doch alle Gärtner geworden, seit wir aus dem Garten Eden rausgekickt wurden. Seitdem versuchen wir, die Welt zum Garten zu machen. Aber genau dieser Garten bringt uns in Gefahr.

Warum Techno?

Techno ist das Gegenteil vom Fitzcarraldo-Prinzip: Brian Sweeney Fitzgerald will die Hochkultur in den Dschungel, ins „Chaos“ bringen. Bei Techno war es umgekehrt, Techno ist beziehungsweise war Subkultur. Die Mischung aus Musik und Substanzen vermag es, uns den utopischen Mythos eines kollektiven Bewusstseins nahezubringen. Wie im Traum: In einem Schwebezustand verbunden zu sein. Schweben und Abschalten.

„Morgen entschwinde mit schimmerndem Flügel wieder wie gestern und heute die Zeit.“ Ein Lied von Schubert. Wäre das die Musik für ein künftiges Projekt?

Ja, vielleicht. In einer anderen Konstellation könnte das funktionieren. Mit Aufnahmen einer Open Pit Mine, eines Tagebaus in der inneren Mongolei, wo seltene Erden gewonnen werden. Nächstes Mal muss ich mit Schubert arbeiten!

Mal ganz diesseitig: Könnten Sie sich vorstellen, sich einer radikal-ökologischen Partei anzuschließen?

Nee. Die radikalen Öko-Dinge sind so einseitig und didaktisch. Deshalb haben sie schon von Anfang an verloren. Da fehlt der Kontrast, der Gegenpol und damit das, was den Menschen ausmacht.

Info

As We Used to Float Julian Charrière Berlinische Galerie – Museum für Moderne Kunst, 27.09.2018 – 08.04.2019

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Geschrieben von

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"Intelligenz lähmt,schwächt,hindert?:Ihr werd't Euch wundern!:Scharf wie'n Terrier macht se!!"Arno Schmidt

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