Wieder hinsehen

Literatur „Vom Mut, menschlich zu bleiben“, erzählt ein Sammelband mit Texten von Künstlern und Schriftstellerinnen
Ausgabe 42/2020
In der postheroischen Gesellschaft ist es um Helden schlecht bestellt
In der postheroischen Gesellschaft ist es um Helden schlecht bestellt

Foto: Mark Dadswell/Getty Images

Sie zögerte keine Sekunde. Anne Dufourmantelle sprang in die Fluten und rettete zwei Kinder vor dem Ertrinken. Die französische Psychoanalytikerin und Autorin ließ dabei ihr Leben. Eine tragische Geschichte und auch eine Geschichte des Mutes und der Zivilcourage. Dufourmantelle erkannte eine Gefahrensituation und handelte. Das Risiko nahm sie bewusst in Kauf. Zögern und Hadern kamen nicht infrage, die Gefahr war imminent.

Es ist eine Geschichte, die nicht oft genug erzählt werden kann. Anne Dufourmantelle hatte in ihrem Buch Lob des Risikos (Aufbau 2018, im Original 2011 bei Payot erschienen) dazu aufgefordert, das Risiko neu zu bewerten. Sein Leben zu riskieren bedeute in erster Linie, sich dem Sterben zu Lebzeiten zu verweigern. Zu lebenden Toten mutieren wir, wenn wir uns aus Angst vor Schmerz und Verlust verzweifelt nach unbedingter Sicherheit sehnen. Wer aber blind vor Angst ist, lässt sich gängeln und verleiten. Eine Gesellschaft, die sich aus risikoaversen Mitgliedern mit Scheuklappen zusammensetzt, ist anfällig für autokratische Strukturen.

Dem Vergessen trotzen

Das zu vermeiden aber ist oberste Pflicht und innigster Wunsch jedes Demokraten. Anne Dufourmantelles Verhalten in einer Gefahrensituation ist vorbildlich, heldenhaft möchte man sagen. Um Helden aber ist es schlecht bestellt in einer postheroischen Gesellschaft. Der Topos des Helden ist mit Kampfesmut und Opferbereitschaft verbunden und bildet nicht selten eine unheilige Trias mit Militarismus. Abgelöst wurde er durch partizipative Strukturen, flache Hierarchien, Solidarität und Teamspirit. Der Held sollte sich auflösen in einer Gemeinschaft der Citoyens, die keiner Helden mehr bedarf. Was aber, wenn nun statt aller keiner mehr vom Mut beseelt ist und alle nur mehr Nabelschau betreiben, anstatt der Gefahr ins Auge zu blicken? Was, wenn Anne Dufourmantelle eine Ausnahmeerscheinung ist und sich nur in den seltensten Fällen Postulat, Mut und Engagement verbinden?

Dann ist es ratsam, den Sammelband Nie wegsehen! zur Hand zu nehmen. Der Herausgeber Harald Roth, Publizist und ehemaliger Lehrer, vereint in diesem Buch 38 Stimmen, die alle in ihrer Vielfalt und Grundverschiedenheit dem Vergessen trotzen wollen und für eine aktive Zivilgesellschaft eintreten. Vom Mut, menschlich zu bleiben, lautet der Untertitel. Der Rahmen ist gesteckt für Zivilcourage; der Mensch ist im Fokus, nicht der übermenschliche Heros. Roth diagnostiziert eine in unserer Gesellschaft vorherrschende Passivität, Angst und Apathie und setzt sich das Ziel, demokratiegefährdende Phänomene zu benennen, Gegenstrategien zu entwickeln und beispielhaftes Engagement zu beleuchten.

Zentral ist für ihn, einer Sinnentleerung des Wortes vorzubeugen und Wege aufzuzeigen, wie Demokratie konkret gelebt werden kann: „Eine Proklamation allein bleibt ein leeres Bekenntnis, wenn sie nicht praktische Konsequenzen hat.“ Zugrunde liegt Roths Band der Gedanke, dass der Holocaust „nach wie vor der zentrale Referenzrahmen der politischen Identität Deutschlands“ ist. Roth ist Mitglied des von Hans-Jochen Vogel im Jahre 1993 gegründeten Vereins „Gegen Vergessen – Für Demokratie“. Der Historiker Michael Parak, ein weiterer Beitragender, ist Geschäftsführer des bundesweiten Vereins, der „historische Erinnerungsarbeit mit dem konkreten Einsatz für die Demokratie verbindet“. Der Nukleus des Sammelbandes ist Aufklärung durch Geschichtsbewusstsein. Frank Biess, Professor für deutsche und europäische Geschichte in San Diego, verschont dabei auch die eigene Profession nicht: „Bezüglich dieser Vergangenheit hat auch die Historikerzunft lange weggesehen. Denn rechtsextreme Gewalt passte schlicht nicht in eine Geschichte der Bundesrepublik, die oft als dezidierte Erfolgsgeschichte erzählt wurde.“ Dieses Zitat spiegelt den Grundtenor des Buches wider: Kein „J’accuse“, kein Klagen und Anklagen soll erklingen, stattdessen soll Selbstreflexion Raum geboten werden. Auch die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann übt Kritik an einer zersplitterten Gesellschaft, die mit dem Finger immer nur auf andere zeigt: „Die Praxis, dass jeder und jede nur für sich selbst und die eigene Gruppe sprechen kann, hat zu einer Fragmentierung der Gesellschaft geführt. Diese Fragmentierung hat die Spaltung der Gesellschaft weiter vorangetrieben, die ja bereits durch wirtschaftliche und politische Lobbys gespalten ist und nun gänzlich den Blick auf allgemeine Missstände und Probleme zu verlieren droht.“ Solidarität statt Identität fordert sie. Der Ton ist meist nüchtern und erinnert an ein „White Paper“, ein Kommunikationsinstrument für ein Zielpublikum, das Lösungen erwartet. Pragmatismus und Handlungsanweisungen stehen im Zentrum und auch Zukunftsorientierung. So nimmt der Titel zwar Bezug auf die Zeit des Nationalsozialismus. Durch das fehlende Adverb „wieder“ weist Nie wegsehen! aber über eine historisierende Perspektive hinaus. Auf alle Fehlentwicklungen einer Demokratie soll sich unser Augenmerk richten: den Umgang mit Migranten, die Gewalt gegenüber Minderheiten, Rechtsextremismus, Rassismus, Verrohung der Sprache, Hetze im Netz, sexuellen Missbrauch, Armut und die Zerstörung der Umwelt.

Kritik an der Sprachkritik

Botho Strauß’ kürzlich geäußerter Einwand, Toleranz und Diversität würden heute verordnet wie vormals die patriotische Gesinnung, würde sich erübrigen, wenn die Texte dieses Bandes eine Breitenwirkung entfalteten, Inseln des Mutes erzeugten und Netzwerke der Solidarität. In diesen Clustern der Courage hätten dann auch wieder Helden ihren Platz. Heldinnen unserer Zeit wie Mo Asumang, die sich ihrer Angst und dem Ku-Klux-Klan stellt. Die Moderatorin und Produzentin ist die Tochter eines ghanaischen Vaters und einer deutschen Mutter in Deutschland. Das „kleine Schwarze Mädchen“ wuchs bei der Großmutter auf, einer „Nazifrau“. Asumang beschreibt, wie sich die Menschlichkeit trotz ideologischer Indoktrinierung den Weg bahnte. Sie legt auch die eigene Zerrissenheit und Unsicherheit offen, als sie in Amerika Mitglieder des Ku-Klux-Klan traf und befragte. Es ist der eindringlichste Text des Bandes, denn er bewegt sich nicht auf einer theoretischen Ebene, sondern ringt mit der Angst, die mit der Durchsetzung von Idealen einhergeht: „Schwachsein holt das Beste aus dir raus, sage ich mir.“

Feldversuche dieser Art dürfen auch als Kritik an einer Sprachkritik verstanden werden, die ein selbstläufiger und von gesellschaftlichen Realitäten losgelöster Prozess zu werden droht.

Nie wegsehen! ist mehr als nur ein Appell, die Augen auf die Mängel unserer Gesellschaft zu richten. Es ein Beleg dafür, dass unterschiedliche Sichtweisen den Blick für Schieflagen schärfen. Es ist auch ein publizistisches Experiment: Führt Vielstimmigkeit zu Kakofonie und Handlungsunfähigkeit? Oder ist sie eine wirksame Strategie zur Stärkung der Demokratie? Das Ergebnis zeigt sich an unser aller Tatkraft, Zivilcourage und Heldenmut.

Info

Nie wegsehen! Vom Mut, menschlich zu bleiben Harald Roth Dietz 2020, 288 S., 22 €

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Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Ute Cohen

"Intelligenz lähmt,schwächt,hindert?:Ihr werd't Euch wundern!:Scharf wie'n Terrier macht se!!"Arno Schmidt

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