Marc Bauer wartet, bis das Wasser in der Macchinetta zu brodeln beginnt. Noch einmal fragt er, ob wir nicht vielleicht doch in ein Café gehen sollen. Es gebe auch fantastischen Kuchen in der kleinen jüdischen Patisserie nebenan. Schon aber steht er im Atelier und serviert das dampfend heiße Gebräu. Black as night und so bitter, dass sich die Papillen vor Schreck zusammenrotten. Passend zum Thema: Textur, Schwarz und Gewalt.
der Freitag: Herr Bauer, Zeichnen bewegt sich für Sie in einem Spannungsverhältnis zwischen Kontrolle und selbstläufigem Prozess. Haben Sie Angst, die Kontrolle zu verlieren?
Marc Bauer: Nein, im Gegenteil: Man muss lernen, die Kontrolle zu verlieren. Wenn man von Anfang an weiß, wohin der Weg führt, ergibt das keinen Sinn, zumal Zeichnen ein langer Prozess ist. Ich selbst hatte immer wenig Kontrolle über mein Leben, beim Zeichnen passe ich mich diesem Grundmodus an und lasse mich überraschen. Man beginnt und bleibt entweder auf einer Linie oder biegt in eine andere Richtung ab. Abbiegen finde ich aufregender!
Der Heilige Sebastian, von Pfeilen durchbohrt, ist eines Ihrer Motive. Was fasziniert Sie am Martyrium?
(lacht) Mein Ziel war eigentlich nicht, den Heiligen Sebastian zu zeichnen, vielmehr einen Untoten, doch schließlich hat sich eine ganz andere Figur ergeben. Ich habe aber in einer bretonischen Kapelle Wandmalereien angefertigt, die die ersten gefolterten Christen zeigen. Mithilfe meiner Zeichnungen versuche ich Gewalt zu verstehen, auch das erregende Moment daran. Meine Großmutter war sehr katholisch, schon als Kind war ich fasziniert von Märtyrerdarstellungen, vom Unbegreiflichen dieser Gewalt. Bei der Darstellung von Gewalt muss man nur vermeiden, dass es illustrativ wird.
Wie also gehen Sie vor?
Ich situiere das Drama nicht in der Gewalt selbst, sondern zum Beispiel in der Erinnerung an sie. Dabei arbeite ich auch mit verschiedenen Schichten. Man muss als Betrachter das Unleserliche erst überwinden, um sich dem Phänomen Gewalt zu nähern.
„Herr und Knecht“ ist ein durchgängiges Motiv in Ihrem Werk. Ist dieses Dominanz-Verhältnis noch aktuell?
Es ist aktueller denn je. Mit zunehmendem Populismus rechter oder auch linker Couleur wird die demokratische Gleichheit infrage gestellt, gesellschaftliche Gruppen werden gegeneinander ausgespielt. In Krisensituationen tritt diese Ungleichheit verschärft hervor. Das zeigte sich bei Aids in den Achtzigern und heute bei Corona oder „Black Lives Matter“.
Propagandafilme und dezidiert maskuline Darstellungen huldigen einem Machtkult. Sind Sie ästhetisch davon fasziniert?
Nein, ich versuche vielmehr zu verstehen, wie diese Bilder funktionieren, weshalb sich die Massen davon angezogen fühlen. Auch das dargestellte Männlichkeitsbild interessiert mich. Man darf nicht vergessen, dass Männer die ersten Opfer dieser toxischen Maskulinität sind. Wir Männer müssen auch an einem neuen Bild der Männlichkeit arbeiten. In meiner Arbeit versuche ich, neue Perspektiven zu entwickeln. Sieht man lange genug hin, brechen diese Stereotype auf. In meinem Zyklus über Migration habe ich die einzelnen Menschen herausgeschält aus der Gesamtheit: den Gefangenen, den Verrückten, den Mörder ... Begreift man die Konstruktion eines Sachverhalts, eines Bildes, befreit man sich von der Herrschaft durch eine bestimmte Ikonografie.
Auf einem Ihrer Bilder befindet sich die Inschrift „aucune issue“, kein Ausweg. Sind wir in Herrschaftsverhältnissen gefangen?
Ja, man ist immer Gefangener von irgendetwas. Es ist nicht leicht, eine gewisse Freiheit zu erlangen. Auch meine Vorstellungskraft ist begrenzt durch meine Denkweise. Meine Arbeit ist tatsächlich dunkel und defätistisch, obwohl ich selbst eher Optimist bin. Ich zeichne bereits seit meiner Kindheit, für mich war Zeichnen immer eine Flucht. Kinder sind doch oft sehr ernst, haben manchmal überhaupt keinen Humor und nehmen alles wortwörtlich. Wenn ich arbeite, bin ich heute noch so.
Zur Person
Marc Bauer, geboren 1975 in Genf, studierte von 1995 bis 1999 an der École Supérieure d’Art Visuel. Bauer ist Träger des GASAG-Kunstpreises 2020, der zum sechsten Mal in Kooperation mit der Berlinischen Galerie vergeben wird. Er lebt und arbeitet in Berlin und Zürich
Mit Bleistift und Lithokreide decken Sie die Palette der Schwarztöne von „sanft“ bis „brutal“ ab.
Ja, Grafit ergibt ein silbernes Dunkelgrau, während Lithokreide ein schweres, dichtes Schwarz erzeugt. Dieses Schwarz absorbiert das Licht, das andere hingegen ist brillant. Diesen Kontrast habe ich schon immer geliebt, diese zwei Schwarztöne ermöglichen es mir, verschiedene Schichten zu erzeugen. Das Problem von Zeichnungen ist ja, dass sie kaum Textur haben. Durchs Schichten verleihe ich der Zeichnung Tiefe und Materialität und erreiche bestimmte, auch gewaltsame Effekte. Diese Schwarztöne ermöglichen eine Dramatik, ohne in Kitsch abzugleiten.
Sind Sie auf der Suche nach dem „perfekten Schwarz“?
Nein, ich finde das ein bisschen debil (lacht). Pierre Soulages zum Beispiel mag ich überhaupt nicht, seine Arbeit spricht mich überhaupt nicht an. Ich finde es überkommen, wie er zu denken. Ich habe nie verstanden, wie man mit einer so schlichten Idee einen solchen Riesenerfolg haben kann.
Historische Narrative wirken bei Ihnen wie „Schwarze Löcher“, die alles absorbieren ...
Ja, die Motive selbst bleiben immer gleich. Es gibt kaum Neuerungen. Selbst Masken sind nichts Neues, die gab es auch schon vor einem Jahrhundert. Deshalb habe ich mich für Montagen entschieden. Außerdem komme ich aus einem Land, in dem kaum über etwas Substanzielles gesprochen wird. In der Schweiz gab es nichts Weltbewegendes. (lacht) Geschichte wird nicht in der Schweiz gemacht.
Sie befassen sich intensiv mit Details, einer Tischkante zum Beispiel. Gehört zu dieser Strategie auch der Perspektivenwechsel, die Herauslösung eines Elements aus dem Kontext?
In diesen Details entdeckt man eine gewisse Sinnlichkeit. Durch die Vergrößerung erscheint das Detail verwandelt. Man sieht nicht mehr die Banalität eines Objekts, sondern etwas Monumentales und zugleich Singuläres.
Ist Ihnen Stillstand unheimlich? Ihre Arbeiten sind oft Serien, in Schichten und Montagen ...
Ich bin ziemlich ungeduldig, könnte zum Beispiel niemals auf Dauer am selben Ort leben; das würde mich nerven. Komfort ist nichts für mich. Wenn es mir zu bequem wird, haue ich ab. Ich lebe ja zwischen Berlin und der Schweiz. In der Schweiz habe ich immer das Gefühl, man könnte einschlafen, ohne es zu bemerken. Was meine Zeichnungen betrifft: Ich denke da nicht sofort an eine Serie. Ich zeichne und entdecke erst danach das verbindende Element. Für die Berlinische Galerie kollaboriere ich mit der Schriftstellerin Sibylle Berg, ich habe Zitate aus ihrem Roman GRM Brainfuck ausgewählt und verbinde sie mit Bildern. Auf einer Arbeit beispielsweise sieht man einen Fahrradsattel; ein simples Objekt, das zugleich auch phallisch wirkt.
Sie arbeiten öfters mit Literaten oder auch Philosophen zusammen ...
Ja, häufig. Eine Zeichnung ist für mich auch ein Mittel, in Kontakt zu treten mit anderen Menschen. Durch das Bild versuche ich die Wirklichkeiten anderer zu begreifen. Sibylle und ich wollten schon lange zusammenarbeiten, ursprünglich dachten wir an einen Zeichentrickfilm.
„What divides us is mainly salted water“, sagen Sie in Bezug auf Migration. Glauben Sie durch Zeichnen den Blick aufs Wesentliche lenken zu können?
Nein! (lacht) Einerseits ist das Publikum doch sehr beschränkt, andererseits ist auch die Wirkung von Kunst begrenzt. Mir genügt es schon, wenn eine einzige Person sagt: Ah, hier habe ich eine gänzlich neue Erfahrung gemacht! Das ist doch enorm! Ich arbeite an verschiedenen Darstellungen der Welt und kontextualisiere sie neu. Menschen lieben Kunst doch genau deshalb, weil sie durch sie Neues empfinden können.
Warum arbeiten Sie mit Textschnipseln? Slogans kann man auch auf T-Shirts finden ...
Das stimmt. Ich denke, ich habe versucht, Differenzen auf etwas möglichst Schlichtes, ja Triviales zu reduzieren.
Isolieren Sie Phrasen, um ihnen mehr Gewicht zu verleihen – ähnlich wie einzelne Objekte in Ihren Zeichnungen?
Ja, die Vorgehensweise ist ähnlich. So habe ich eine Karte des Mittelmeeres gezeichnet und mich gefragt, welch gravierenden Konsequenzen es hat, nördlich oder südlich von ihm zu leben, wo uns doch letztlich nur „salted water“ trennt. Die geografische Lage aber hat enorme Auswirkungen.
2015 sagten Sie, wir würden bald auf dem Mars leben. Wie würden Sie dieses künftige Leben skizzieren?
Das habe ich gesagt? (lacht) Nun, das wäre ein einziger Albtraum! Elon Musks Idee, den Mars zu besiedeln, habe ich immer als idiotisch empfunden. Ich hoffe, es gelingt uns, auf diesem Planeten zu bleiben.
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