Der Süden widersteht, Tag 1

Kolonialismus Eine Karawane im Süden Mexikos macht auf Menschenrechtsverletzungen und Umweltzerstörung durch zwei Megaprojekte aufmerksam. An diesen beteiligen sich zahlreiche Unternehmen - auch aus Deutschland.

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Im Morgengrauen wird das Brummen der Zirpen zum Zwitschern der Vögel, durch dünne Wolken bricht die Sonne hervor, wandert die bewaldeten Berge hinauf und taucht die versteckte Lichtung einer besetzten Rancho bei Pijijiapan in warmes Licht. Dutzende Hängematten und Zelte regen sich, als circa 100 Teilnehmer*innen der Karawane „Der Süden wiedersteht“ aufstehen, um die zehntägige Protestreise gegen die Megaprojekte „Tren Maya“ und „interozeanischer Korridor“ im Süd-Südosten Mexikos anzutreten. Ihre Zahl wird in den kommenden Tagen auf ihrer Route durch die Bundesstaaten Chiapas, Oaxaca, Veracruz, Tabasco, Campeche, Yucatán und Quintana Roo auf über 200 anwachsen. Anwesend sind lokale Gemeinden, Kollektive, Räte und Organisationen, Medienschaffende, Menschenrechtsbeobachter*innen und Internationalist*innen aus vielen Teilen der Welt.

Die drohenden Fabriken, Monokulturen, Infrastrukturprojekte, Militärbasen und Industriekorridore wirken hier, wo der Wald die alten Fincero-Häuser zurückerobert, weit entfernt. Doch nur 15 Kilometer westlich, an der Küste von Chiapas, wartet ein Gasoduct (eine Gaspipline) auf die neue Infrastruktur: Fracking-Gas aus Texas soll an der Küste durch ganz Mexiko bis Guatemala transportiert werden – ergänzt durch neue Raffinerien in der Nähe der großen Istmus-Häfen Oaxacas. Es droht Landraub auf Kosten der indigenen Gemeinden und die Zerstörung der letzten intakten Ökosysteme am Pazifik.

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Die drei Busse der Karawane erreichen unter diesen Vorzeichen die Gemeinde El Progreso. Hier widersteht seit über 30 Jahren der Consejo Autónomo Regional Zona Costa de Chiapas (Autonomer Rat des Gebiets der Küste von Chiapas) der territorialen Neuordnung durch Großprojekte. Aktuell denunzieren sie neben dem aufgezwungenen Gasoduct die hohen Preise für Licht, welche ihnen durch die staatliche Comisión Federal de Electricidad aufgezwungen werden. Nach einem Demonstrationszug durch die Gemeinde gehören dem Sprecher des Rates auf dem sich füllenden Sportplatz der hiesigen Grundschule die ersten Worte der Karawane, dessen Bedeutung er sich bewusst ist: „Heute ist ein historischer Tag für diese Gemeinde. Wir organisieren uns, um den schlechten Regierungen zu sagen, dass wir genug von dem haben, was sie uns zumuten. Es reicht!“ Was diese Zumutungen sind, präsentieren die folgenden sechs Redner*innen:

Sie sprachen über ihre Geschichte des Kampfes und verbanden den lokalen Widerstand mit dem zapatistischen Aufstand von 1994. Dabei hoben sie neben dem Kampf gegen die CFE insbesondere ihren erfolgreichen Einsatz gegen Tagebaue hervor. Viele Genoss*innen betonten dabei den Einsatz der Frauen gegen die Großprojekte der Minen, Gaspipelines und das militärische „Aufforstungsprojekt“ Sembrando Vida. Anschließend ergriff als Delegierte der Karawane eine Compañera aus Kolumbien das Wort, die das zuvor Berichtete mit dem Extraktivismus in der dortigen Region Putumayo verglich.

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Auch in Tonalá, der zweiten Station der Karawane an diesem Tag, geht es um die hohen Preise für Licht und Strom. Was paradox wirkt, ist einfacher Kolonialismus: Die großen Energieunternehmen rauben der (vor allem ländlichen) Bevölkerung ihr Territorium und errichten riesige Windpark-, Solar- und Wasserkraftanlagen, Öl- und Gasraffinerien zerstören die Küstenregionen und die Lebensgrundlagen der dortigen Fischer*innen. Gegen diesen Landraub setzt sich die Bevölkerung zur Wehr – und fordert gleichzeitig billigen Strom? Es ist ein doppelter Angriff „der Reichen gegen die Armen“, wie es heute mehrmals betont wird: Land wird gestohlen, Menschen ziehen in die Stadt, und während die großen Unternehmen (Automobil-, Textil- und Lebensmittelindustrie siedelt sich im Süd-Südosten Mexikos an) billigen Strom aus geraubten Gebieten erhalten, erhöht sich der Preis für Licht und Elektrizität für die Verdrängten ins Unbezahlbare.

Vor dem Stadtpalast der Gemeinde, auf dem heißen Platz, der viele unter das Vordach bewegt, ergreift ein Redner der Frente Civico Tonalteco das Wort: „Die schlechte Regierung vergisst die Arbeiter, die Strom für ihre Arbeit brauchen, sie vergisst die Menschen, die Strom brauchen, weil sie krank sind. Ihnen keinen bezahlbaren Strom zur Verfügung zu stellen, ist eine Verletzung ihrer Rechte, gegen die wir uns nicht wehren können. Wir werden als entrechtete Objekte behandelt und werden, wenn wir uns wehren, von der CFE (der staatlichen Comisión Federal de Electricidad) bedroht. Doch wir werden keine Angst vor diesen Bedrohungen haben. Wir wollen Licht und Strom, wir wollen ein Leben in Würde, und wir werden weiter kämpfen, mit der linken Hand zur Faust erhoben.“

Ein compa der Karawane greift diesen Aufruf auf: „Wie ihr sehen könnt, sind alle Bedürfnisse, die wir haben - im ganzen Land - die gleichen: Wir brauchen Wasser, Strom, und wir müssen uns gegenseitig unterstützen, um dies für die Zukunft unserer Kinder und Enkelkinder zu erreichen... Aber niemand denkt an uns... Die schlechte Regierung handelt gegen die Armen, und deshalb müssen wir uns im ganzen Land vereinen.“

Einige, die kämpfen, sind heute nicht anwesend. Die folgenden Rednerinnen fordern die Freiheit von dem seit Wochen eingesperrten Manuel Vazquez, der für ein Verbrechen verurteilt wurde, das er erwiesenermaßen nicht begangen haben kann. Ein Comunicado des neunten zapatistischen Caracols wird verlesen: „Unser Genosse wird kriminalisiert, und es werden Beweise erfunden, um ihn zu Unrecht im Gefängnis zu halten. Sie haben ihn verurteilt, weil er ein Zapatist ist, das ist die Wahrheit. Für die schlechten Regierungen ist es ein Verbrechen, Zapatist zu sein, ein Verbrechen, das mit Verleumdung, Verfolgung, Gefängnis und Tod bestraft wird.“

Nachdem ein Delegierter aus dem Bundesstaat Veracruz die dortigen Megaprojekte verurteilt („Compas, sie setzen die Megaprojekte gegen die Interessen der indigenen Völker um, im ganzen Gebiet, diese Megaprojekte kommen nicht den Armen zugute, im Gegenteil. AMLO [der mexikanische Präsident Lopez Obrador] sagt zwar, dass die Armen an erster Stelle stehen, aber seht, wir sind immer noch arm [...]. Aber wir werden kämpfen, wir werden niemals aufgeben. Wir sind nicht allein, und nicht nur in Veracruz sind wir im Widerstand, und wir verteidigen das Wasser, die Santa Martha Berge, das Recht auf unser Territorium…“), ergreifen die indigenen Delegierten der Otomí das Wort. Seit sie durch bewaffnete Gruppierungen und brutale Landkonflikte aus ihrem Territorium vertrieben wurden, machten die Otomí durch eine spektakuläre Besetzung auf sich aufmerksam: Nachdem die zuständigen Institutionen in Mexikos Hauptstadt nicht willig oder in der Lage schienen, ihnen die Rückkehr in ihr Territorium zu ermöglichen, besetzten sie das ehemals „Nationale Institut der Indigenen“ (INPI), welches heute „Casa de los Flores Samir Flores“ heißt.[1]

„Sie töten uns, sie lassen uns verschwinden, sie sind Verbrecher, und diese Verbrecher haben Rechte, sie kennen ihre Rechte, aber wir als indigene Völker, wir scheinen keine Rechte zu haben. Der frühere Präsident, wie auch der jetzige Präsident, ihre Regierungen töten uns, sie schützen unsere Brüder und Schwestern nicht, die das Leben, das Wasser, den Wald verteidigen, sie machen ihre Arbeit sehr schlecht. Wenn sie ihre Arbeit gut gemacht hätten, wären wir auf unserem Land, in unseren Häusern,“ rufen sie in Bezug auf ebenjene Besetzung des INPI aus. „Wir haben eine Kultur: Und diese sieht für sie auf einem Stück Papier, auf einem Foto gut aus, aber nicht, wenn wir persönlich da sind und sagen: Hier sind wir [hier ist unsere Kultur]... Sie wissen nicht, wie man etwas gut macht. Das passiert im ganzen Land, aber auch in Europa gibt es diesen Kampf um das Leben, sie wehren sich auch, sie verteidigen das Wasser und den Wald.“

Auch die Otomí erinnern an einen compa, der uns heute nicht begleiten kann: „Wir fordern die Befreiung von Miguel López Vega, eingesperrt im Haus der Ungerechtigkeit [Bezug auf die Casa de Justicia [Haus der Gerechtigkeit] de San Andrés Cholula), Verteidiger des Wassers und des Lebens, aus der Gemeinde, die wir verlassen mussten.“ Vega wurde erst vor wenigen Wochen wieder angeklagt, nachdem zuvor alle Vorwürfe gegen ihn fallengelassen worden sind. Er setzt sich gegen die Privatisierung des Flusses Metlapanapa ein. Und auch sie beziehen sich auf die berühmte Aussage AMLOs, „primero los pobres“ (zuerst denken wir an die/ helfen wir den Armen): „Was tut er? Er nimmt den Armen das Wasser und den Wald weg. Die Reichen gewinnen, und ihre Industrien sind hinter allem her: Wasser, Land, Luft.“

Wie dieses „Hinterhersein“ aussieht, erläutert Bettina Cruz vom CNI den zuhörenden Bewohner*innen von Tonalá. Sie spricht über das geplante Gasoduct, und sie spricht über den „interozeanischen Korridor“: „Es ist ein Güterzug, aber er ist nicht dazu da, euren berühmten Käse zu transportieren oder eure Camarones oder Sonstiges, was ihr hier produziert, er ist für Waren da, die nicht die euren sind, sondern für jene Billigprodukte der großen Unternehmen. Wir wollen auch den schlecht benannten `Maya-Zug´ nicht, der uns mit Leere und den Regenwald mit Hotels für reiche Touristen füllt.“ Cruz betont die Militarisierung der Region durch die Megaprojekte, denen sich die Karawane in den Weg stellt: „Sie errichten bereits mehr Kontrollpunkte, die Guardia Nacional, die Armee, und im interozeanischen Zug: die Marine, sie alle sind immer präsenter. Wir verteidigen das Leben, deshalb kommt das Militär und wir sind NICHT bewaffnet, wir haben nur uns, deshalb sind wir hier.“

Auf dem Weg zur nächsten Station der Karawane, der sich im Widerstand gegen einen Industriepark befindenden Gemeinde Puente Madera, werden die Busse mehrmals von der Guardia Nacional und Einheiten der Policia Federal angehalten.

Umso mehr erfüllt uns der Empfang in der sich widersetzenden Gemeinde: Feuerwerk und Fackeln erhellen die kurzzeitig blockierte Straße, und unter lauten Rufen – „Nein zum Industriepark, es lebe Puente Madera“, begleitet man die Karawane in das Ortszentrum.

Den meisten, die hier nun einschlafen, tönen noch die Sprechchöre des heutigen Tages in den Ohren:

"Das Volk widersteht und widersteht, Zapata lebt und lebt, der Kampf geht weiter und weiter", "Es lebe die Karawane des Widerstandes des Südens", "Das Militär raus aus Chiapas, die Paramilitärs raus aus Chiapas", "Und lasst die schlechte Regierung gehen - Regierung, Dieb, das sind diejenigen, die die Nation verarschen".

Ein Kommentar bleibt mit besonders in Erinnerung: „Wir sind in einem sehr sicheren Staat, sagt die schlechte Regierung, und ja, ist es nicht so? Mit Sicherheit töten sie uns, sicher stehlen sie unser Wasser, sicher lassen sie uns verschwinden, sicher diskriminieren sie uns, sicher vergewaltigen sie uns. Der sicherste Staat, richtig?“

Und ein weiterer: „Danke, dass wir an den Widerstand glauben.“

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Der heutige Auftakt der Karawane wurde durch Solidaritätsaktionen in Deutschland zu einem internationalen Aktionstag: In Berlin, Hannover, Hamburg, Erfurt und weiteren Städten wurde in Kundgebungen, aktivistischen Zugfahrten, Solikneipen und Demos auf die Verstrickung der Deutschen Bahn in das zerstörerische Megaprojekt „Tren Maya“ hingewiesen. Auch aus Italien und Skandinavien erreichten uns Grußbotschaften.

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Eine weitere Karawane startete in diesen Tagen: Mehrere tausend Migrant*innen aus Mittelamerika und Haiti machten sich von Tapachula aus auf den Weg Richtung Norden. Sie fordern Gerechtigkeit für die über 37 Migrant*innen, die in einem Abschiebe-Gefängnis in der Grenzstadt Ciudad Juarez verbrannten, als ein Feuer ausbrach, während sie rechtswidrig hinter Gittern gehalten wurden. Die militarisierten Megaprojekte im Süd-Südosten Mexikos sind auch als brutale Antwort auf diese Organisation der Migrant*innen aufzufassen.

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Was europäische Unternehmen mit den Megaprojekten zu tun haben, erfahrt ihr hier: https://deinebahn.com/

Eine weitere Nachricht zeigt die Bedeutung des „interozeanischen Korridors“ als Schlüsselprojekt eines fortgeführten Kolonialismus auf: In der besetzten West-Sahara wird völkerrechtswidrig tonnenweise Phosphat abgebaut. 41 Prozent des Rohstoffs wird nach Mexiko verschifft, in den Istmus-Hafen Coatzacoalcos, wo ihn ein einziger Kunde entgegennimmt: Das US-amerikanische Unternehmen Innophos, das den Rohstoff aufgrund der völkerrechtwidrigen Abbau-Realität in der Westsahara nicht mehr in den USA annehmen darf. Den entsprechenden Bericht der Western Sahara Resource Watch findet ihr hier: https://wsrw.org/de/nachrichten/konfliktressource-phosphat-vier-jahrzehnte-plunderung

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Für aktuelle Informationen rund um die Karawane „Der Süden widersteht“:

Twitter: @AgRecherche und @TrenMayaStoppen

Websites: https://www.elsurresiste.org/, https://deinebahn.com/

[1] Samir Flores war ein Defensor in der Gemeinde Amilcingo, der aufgrund seines Einsatzes gegen die thermoelektrische Anlage in Huexca 2019 ermordet wurde.

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