wahr's Musik in 2009

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Mein Senf zur Musik 2009. Keine besondere Reihenfolge. Wird laufend durch Nachschläge ergänzt.

An den Flaming Lips habe ich jetzt kapiert, dass ihre Platten seit „Soft Bulletin“ nur aus jeweils einem einzigen Track bestehen. Wie eine alte EUROPA-Märchenplatte. Dieser eine Track wird beblubbert, zugeproggt, seziert, Dave Fridmann (dem Produzenten) zum Fraß vorgeworfen, wieder herausgewürgt, zusammengepappt und mit 16 Tonnen Liebe und Stromkabelsalat zum Leben erweckt. Konsequenterweise heißt die letzte Platte „Embryonic“. Irgendwie haben die sich zum xten Mal selbst übertroffen.


Aus den EMI-Archiven der ehemaligen Kolonialmacht England durfte sich (und darf sich auch in Zukunft) Honest Jons bedienen. Aus dem Vorderen Orient der ersten Hälfte des vorherigen Jahrhunderts lassen sie „Open Strings“ auf dieser ziemlich erstaunlichen Do-CD materialisieren. Saitentöne auf ungekannten Instrumenten entführen meisterhaft in die Gegenwart, wenn auf einmal eine Improvisation ein Maschinenfeuer imitiert (Hubschrauber? Maschinengewehr? Oder ist es nur eine Variation, deren Bedeutung hunderte Jahre alt ist?). Gradwanderungen aus Disziplin und Leidenschaft, aus Sehnsüchten, Individualismen und Traditionen. Auf CD2 werden Gitarristen und andere Saitenspieler gewahr, wie tief sie von diesem Zeugs beeinflusst sind. Auch schön, aber an die Orientalen kommen sie nicht ran, selbst Paul Metzger (hier) nicht. Einziges Manko: Keine Hintergrundinfos, nur dies: „Disc A is mostly 1920s recordings from Egypt, Iran, Iraq and Turkey, transferred from original 78s in the EMI archive, with sound restoration by Andy Walter at Abbey Road Studios. Disc B is new commissions in response”. Ich hätte gerne noch viel mehr erfahren als diese dürftigen Sätze und die Namen der Musiker.

Apropos Abbey Road: Ja, auch ich habe mir einige CDs der Beatles-Remaster geholt, nämlich alles (außer Yellow Submarine) ab Rubber Soul. Und ja, die klingen fantastisch, und ja, die Beatles waren für mich schon immer so dermaßen selbstverständlich die beste Band aller Zeiten, dass ich mich immer noch wundere, wenn das andere anders sehen. Und ja, auch ich sehe das des Öfteren anders.

Savoy Grands „Accident Book“ habe ich an anderer Stelle schon zwei Oden geschrieben, nämlich auf meinem Zu-Zeiten-Blog. Ich füge noch hinzu, dass ich mittlerweile zu der Überzeugung gelangt bin, dass sie damit ihr bisher bestes, an Tönen armes Werk hingelegt haben, obwohl doch schon vorher alles toll und unbegreiflich war. Die brauchen nicht Jahre, um ein neues Album vollzuspielen, die brauchen Jahre, um es von allen unnötigen Tönen zu befreien. Das was übrig bleibt, strahlt umso heller. Eine Band wie ein gutes Gedicht.

Apropos Gedicht: Ich hätte nie gedacht, dass mich mal eine Band wie Element Of Crime interessieren könnte, aber ich sah sie letztens bei „Inas Nacht“ und war ihrer stoischen Musik, dem kratzigen, untergründig übelgelaunten und trotzdem energischen Gesang Sven Regeners und seiner wirklich verdichtende Alltagspoesie sofort erlegen. CD („Immer da wo du bist bin ich nie“) gekauft, gehört und nicht enttäuscht gewesen. Das sagt mir mehr als Distelmeyer, auch musikalisch. Aber egal, ich will's nicht gegeneinander ausspielen.

Weiter geht’s im Fahrwasser meiner eigenen Rufschädigung: Ich hörte auf myspace einige neue Stücke von Devendra Banhart, fand alle (!) absolut super und kaufte mir die neue Platte "What Will We Be". Der total aufgeräumt wirkende Banhart haut hier wirklich einen schillernden Amethysten nach dem anderen raus und manövriert sich endlich raus aus der Kritzelsong-Ecke (die verunglückte Woodstock-Platte überspringen wir mal), die ich zwar auch mochte, die mich aber dieses Jahr nicht mehr gekriegt hätte. Hier gibt es alles von psychedelischem Überzeugungsgedaddel, Caetano-Veloso-Inkarnationen (ungefähr zu „Caetano Veloso II“-Zeiten, 1969 - als Tropicalismo und Beatles die schönste Allianz eingingen), Studio One-Verbeugung im letzen Stück „Foolin“, spanischen Lyrics, kleinteiligen Mini-Suiten bis hin zu einer Prise Roxy-Glamour. Lasst euch den nicht entgehen, weil ihr vielleicht denkt, er würde zu gut aussehen oder hätte die falschen Fans. Sowas spielt einfach keine Rolle.

Wenn es eine Band gibt, die den Geist alter amerikanischer Folk-Musik in unwiderstehlich schleppendem Tempo weiterträgt, ohne in Traditionalismen zu erstarren, dann ist das Califone (es gibt auch noch ein paar andere, aber ich will mir meinen Einleitungssatz nicht kaputt machen). Dazu passt auch, dass sie Filmmusik produzieren, denn die meisten Songs aus dem American Songbook sind ebenfalls durch hundertausend Lupen und Linsen veränderte Blickwinkel auf Szenen und Geschichten. Das Drehbuch des Alten Amerika ist um ein paar Settings reicher mit "All My Friends Are Funural Singers".

Das Alte Kanada lebt in diesen Rabauken weiter: The Deep Dark Woods. Ich bin sicher, sie haben ein gutes Leben, das trotzdem nicht frei von Schwierigkeiten ist. Irgendwo schrieb ich: Sie sind wie Neil Young ohne Neil-Young-Probleme. Und dafür mag ich sie. Verholzte Geschichten und durchgängig gute Songs, die auch die Country-Byrds nicht vom Rodeosattel geworfen hätten. „Winter Hours“ habe ich den ganzen Sommer über gehört. Das ist aber ganz typisch für mich: Ich höre auch jeden Sommer die End-Sommer-Torschlusspanik-Nummer „Summer’s Almost Gone“ von den Beau Brummels und die End-Winter-Akku-ist-leer-Liebe-ist-weg-Nummer „Winter“ von den Stones. Das sind nämlich in Wirklichkeit ausgesprochene Sommersongs.

Sarah Jarosz entdeckte ich durch eine Nennung im „Banjo Hangout“, dem größten Banjo-Forum im Web. Eine Mandolinen-, Gitarren- und Banjospielerin, die auf „Song Up In Her Head“, ihrem Debut, eine Art kammermusikalischer Verschmelzung von Folk und klassischen Elementen - Cello, A-Bass, Fiddle, Piano, Pedal Steel - gelingt. Immer im Blickfeld des Alten Amerika, covert sie je einmal Tom Waits und die Decemberists, und komponiert ansonsten ebenbürtige Originale. Und dabei ist sie erst 17 Jahre alt. Sie singt nicht bezaubernd, sondern besser, selbstbewusster, reflektierender. Kein naiver Klampfenkram. Sie selbst ist eine absolute Könnerin (unter anderem spielt sie - sehr ungewöhnlich - ein Sechs(!)saitiges Clawhammer-Banjo), ihre Mitbegleiter nicht minder. Ganz tolle Platte.

Paul Metzger hatte 2009 auch was am Start: „Anamnestic Tincture“, Vinyl-only, 425er Auflage. Ich hab die Nummer 43, jedes Cover mit einem anderen Original-Vintage-Foto mittels Fotoecken beklebt. Meins zeigt vier Typen in einer Straßenszene vor einem Laden (Barber-Shop? Cafe? Butcher-Shop? 1940er Jahre?). Drei Live-Aufnahmen von 2002 bzw. 2008. Modifiziertes Banjo oder Gitarre. Toll ist besonders die Live-Version von „Orans“ (schon als Studio-Version auf „Deliverance“ von 2007 enthalten). Man kann schön sehen, wie viel doch in Metzgers Kunst durchdacht und komponiert ist, was man erstmal als spontane Improvisation interpretieren würde. Die neueste Arbeit Metzgers, eine Kooperation mit Seru und Milo, wollte mir der Postbote am Samstag morgen vorbeibringen, vermute ich. Aber ich war zu faul, auf den Summer zu drücken. Mittlerweile ist sie aber da, und ich benötige noch ein bisschen dafür. Es wird ein Summenspiel.

Die CD, die ich 2009 am meisten gehört habe, ist von Timesbold, nennt sich „Ill Seen Ill Sung“, ist von 2008, und ebenfalls dem Alten Amerika verfallen, mit Ofenrohren als Perkussion oder so, echten Gedichten als Lyrics, und einem zittrigen Sänger, der auch mal dräuend (s)eine Mama besingt. Stellenweise wieder treibend, dann plumpst die Chose in Kindheitserinnerungen und stille akustische Löcher, stabreimt sich einen Heiligenschein („Hollow Halo“) und pflegt auch ansonsten Abseiten, die aber nie manieriert bedient werden. Ziemlich einmalig. Als wären ca. acht Amerikaner in einem Bergdorf in Rumänien eingeschneit und machen das Beste draus, nämlich sich unheimliche Lebensgeschichten erzählen und mit den umliegenden Gerätschaften vertonen (ich sag mal Violine, Cello, Orchestrale Perkussion, Banjo, Gitarre, und was halt noch so zu gebrauchen ist). Ein sehr tolles Zitat von Robert Walser ist abgedruckt: „There’s something missing when I don’t hear music, and when I do, then there’s really something missing“. Damit ist alles gesagt - auch über Timesbold (kommen aus Brooklyn).

Lee Fields’ “My World” ist ein echtes Phänomen. Im August gekauft, habe ich die CD nicht ein einziges Mal bisher gehört. Hatte irgendwie keine Lust. Sowas ist mir noch nie passiert. Muss aber gut sein.

Noch ne Box? Habe mir die Creedence Clearwater Revival Box gegönnt. Alle sieben LPs als CDs im - dem Original nachempfundenen - Zwergen-Design, mit diversen Bonustracks. Schönes Booklet, aber verglichen mit meiner originalen „Chronicle“-DoLP klingt das Remastering einfach nicht so gut. Der Bass ist zwar präsenter, aber die Höhen nerven, dazu wurde der Gesamtsound irgendwie auseinandergerissen, und das, obwohl doch gerade Creedence einen wirklich dynamischen Gruppensound hatten (ich denke, unter anderem deswegen waren sie auch die Helden von Mike Watt und D. Boon). Schade. Außerdem braucht man wirklich nicht alles von denen. Andererseits reicht die klassische „Chronicle“-Best-Of auch nicht aus, sind doch dort die langen Groover („Grapevine“, „Suzie Q“ u.a.) nur in Kurzversionen enthalten. Also mein Tipp: Box sausen lassen, stattdessen nach den Originalen Ausschau halten. Bekommt man bestimmt hier und da nachgeworfen.

Tolles Reissue: Junior Murvins „Police And Thieves“. Lee-Perry-Reggae-Klassiker. Zur Do-CD aufgepimpt, mit (für mich) unverzichtbaren Bonustracks und Remixen. Natürlich wird auch wieder „Police And Thieves“ (der Titelsong) durch zahlreiche Mitosen verdoppelt und verdreifacht. Ist alles sein Geld wert. „Although this album captured the mood of an era, its appeal is not frozen in time, and the reissue is essential“ (Steve Barker. WIRE. Dec 2009)

Ansonsten:
Clawhammerbanjo, Clawhammerbanjo, Clawhammerbanjo: nämlich drei klassische Clawhammerbanjo-Compilations namens Clawhammer Banjo Volume One, Clawhammer Banjo Volume Two, Clawhammer Banjo Volume Three. Noch mehr Clawhammer auf “Mountain Music of Kentucky” (wiederum auf meinem Zu-Zeiten-Blog bereits abgefeiert). Eher wenig Clawhammer, dafür aber trotzdem viel Banjo und der erstaunlichste Gesang, den man schneidend und verdammt einsam gerne nennen darf: Roscoe Holcombs zwei CDs auf Folkways. Mehr Clawhammer dagegen auf „Prebird’s Oldtime Banjo Sampler“ des guten Deadheads Hartmut aus Hannover (Private Brennung), noch mehr Clawhammer auf diversen Videos auf Youtube, dazu noch eine Prise Clawhammer-Krieg im „Banjo Hangout“ und auf „Tangier-Sound“ wird auch geclawhammert, dass man’s kaum glauben kann. Leider musste ich letztens, als Wolfgang a.k.a. „Woofgääng“ bei mir zu Besuch war, erfahren, dass ich überhaupt kein Rhythmusgefühl habe, wenn ich Clawhammerbanjo spiele, bzw. ich keine Achtelnoten spiele mit Clawhammer-Strum, sondern völlig aus dem Takt bin, weil ich den Strum zu langsam spiele. Aber: Herrgott, ich bin CLAWHAMMERKÜNSTLER!!! Was interessiert mich da der Takt. ;-)

Schreiben Sie (ja, Sie da!) bitte auch mal den ein oder anderen Text hier ins Portal, wenn Ihnen etwas gefallen hat, und nicht nur, wenn irgendwas ganz schlimm ist. Ich schreibe „auch mal“ und nicht „nur“.

Hörproben über myspace, youtube, et cetera.

Danke für die nette Aufnahme in Freitag.de

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Geschrieben von

wahr

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