Eine banale Geschichte-oder etwa doch nicht?

Streitkultur „Hübsch erzählt, heile Welt von früher. Jetzt sprechen wir aber von heute, gell?“ Klar doch, das Heute hat seine Wurzeln im Gestern. Mein erster Community-Beitrag.

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Es gibt Geschichten aus dem Alltag, welche auf den ersten Blick anekdotenhaft und antiquiert wirken. „Hübsch erzählt, heile Welt von früher. Jetzt sprechen wir aber von heute, gell?“ Im Zentrum meines ersten Beitrages in DerFreitag-Community steht eine solche Begebenheit.

Anamur/Türkei 1998

Gegenüber unserem Mehrfamilienhaus steht ein ziemlich marodes, eingeschossiges Dreiraumhaus. Bewohnt ist es von einem Schuhputzer mit Frau, zwei aufgeweckten, quirligen Söhnen im Grundschulalter und dem bettlägrigen, pflegebedürftigen Vater des Familienoberhauptes. Die Frau ist bemüht, aus dem etwa 200 m² großen Vorgarten, in welchem zwei Schatten spendende Bäume stehen, ein Maximum an Obst und Gemüse zu erwirtschaften und damit das prekäre Familienbudget zu entlasten. Im Nachbarhaus befindet sich ein kleiner, verstaubter Bakal, wo es neben frischem Brot, dem wichtigsten Bestandteil jeder Mahlzeit, die Dinge des Alltags zu kaufen gibt.

Das Problem

Zwei bis dreimal pro Woche sieht man Ayse, die Frau des Schuhputzers, gegen 18:15 aus ihrem Haus kommen und vor dem Laden von Fikri Amca warten. Je näher der Uhrzeiger gegen 18:30 rückt, um so unruhiger wird sie. Fikri räumt seine Auslagen schon rein, Ayse spricht leise, beinahe beschwörend mit ihm. Die Zeit ist um, Fikri drückt ihr teilnahmslos ein übrig gebliebenes Brot in die Hände und Ayse schleicht sich niedergeschlagen, manchmal sogar ohne Brot, ins Haus zurück.

Gegen 19 Uhr oder noch später kommt dann Hasan, der Ehemann, die Straße herunter, oft alkoholisiert. Wenige Minuten später steigt der Geräuschpegel im kleinen Häuschen massiv an, die beiden Jungs suchen das Weite. Kein Zweifel, Streit. Der gute Hasan mit seinem kärglichen, unregelmäßigen Einkommen versäuft und verraucht tagsüber offensichtlich den Großteil desselben , während Frau und Kinder Hunger leiden, nicht mal Geld haben, um Brot zu kaufen.

Dies wird in der Nachbarschaft durchaus wahr genommen. Es gibt Leute, welche Fikri beim Bezahlen ihrer Brote „und noch eins für Ayse“ zuraunen. Selbst eingreifen? Hasan zur Rede stellen? „Nein, das ist Familiensache.“ Dies die entschiedene Ansage des Imams nebenan, genau so Fikri Amca.

Den Konflikt angehen

An einem Samstagmorgen herrscht im Vorgarten Ayses reger Betrieb. Gegen 40 Stühle werden aufgestellt. 20 links, 20 rechts und zwar so, dass sich die beiden Gruppen gegenübersitzen. Ungewöhnlich. Ein Todesfall? Nein, es klagt niemand. Gegen mittag fahren Autos vor, alle aus derselben Provinz, dem Heimatort der Frau, ca. 400 Kilometer entfernt. Zu Fuß kommen weitere Leute, Familie des Mannes. Man begrüsst sich gegenseitig, trinkt Tee, plaudert scheinbar über Belanglosigkeiten, bis sich dann alle auf die Stühle setzen.

Was nun folgt ist ein Tribunal, wie wir es uns hier nie und nimmer vorstellen könnten. „Euer Sohn schaut unserer Tochter und deren Kindern schlecht. Er sitzt da mit 10 Schuhputzern in derselben Gasse, verdient zu wenig. Damit kann man keine Familie durchbringen. Sie haben nicht mal genügend zu essen. Von dem Wenigen, was da ist, hat sie auch noch euren pflegebedürftigen Vater zu versorgen, um den sich sonst niemand kümmern will. Dieser Zustand kann so nicht weiter gehen, ansonsten wird unsere Tochter mit Kindern zu uns zurückkehren. Wir appellieren an euch, Hasan an seine Pflichten und Verantwortung zu erinnern.“ Verfolgt wird das alles von der Nachbarschaft auf den Balkonen. Eine öffentliche Verhandlung.

Die Familienältesten debattieren erstaunlich ruhig und man sitzt bis spät in den Abend. Am Sonntag gegen 10 geht das weiter, aber entspannter. Nach einem gemeinsamen Mittagessen macht sich die Familie von Ayse wieder auf den Nachhauseweg. Ohne Ayse. Probezeit. Hasans Familienangehörige bleiben noch länger. Die Männer knöpfen sich den eh schon arg geknickten Hasan vor, die Frauen kümmern sich um Ayse. Zweifellos fühlen sich Hasans Angehörige in die Pflicht genommen. In der Türkei heiratet man bekanntlich Familie.

Das Ergebnis

Wenige Tage später: Ein Balkon-Nachbar mit Beziehungen und Zeuge der Versammlung besorgt Hasan eine Genehmigung als Maisverkäufer für die Sommersaison. So taucht Hasan plötzlich mit einem Maisverkäuferwagen auf. Ayse bereitet Maiskolben vor, kocht diese schon mal halbgar, um sie dann in den Kessel des Verkaufswagens umzuladen. Im Winterhalbjahr sind es Simits und weiteres Gebäck, welches Hasan anbietet. Die erzielten Einnahmen reichen für ein bescheidenes Leben. Der pflegebedürftige Vater ist weiterhin da, aber Ayse kriegt mehr weiblichen Besuch aus der Familie Hasans.

Abschließend: Diese neue Erwerbsstruktur hatte mindestens 10 Jahre lang Bestand. Die Familie ist zusammen geblieben, die Söhne schlossen ihre Schule ab, begannen selbst zu arbeiten.

Verklärte Vergangenheit? Nein!

Diese wahre Begebenheit ist kein Einzelfall. Sie wirkt aber bis heute nach und hat für mich persönlich nach inzwischen 4 Jahren in Deutschland eine niemals geahnte Aktualitität erhalten. Ich finde, auf gesellschaftliche Fragen, welche uns heute extrem beschäftigen, findet man da bereits Antworten, einfach auf einer anderen Ebene.

..aus aktuellem Anlass: Mir hat bei diesem „Tribunal“ gefallen, dass die Familien nach einer ersten Auslegeordnung sich nicht gegenseitig schlecht gemacht, mit Pauschalvorwürfen überzogen haben. Etwas, was auch ab und an vorkommt und dann in häßlichen Streitereien und vielfach im Spital endet. . Trotz einem offensichtlichen Problem und großer Sorge stand nicht in Frage, dass man gemeinsam Pflichten und Verantwortung zu tragen habe und sich daran nichts ändern sollte. Einfache Leute mit einer, in diesem Falle, bewundernswerten Gesprächskultur…

Deswegen wehre ich mich angesichts der aktuellen Diskussion um Erdogan, „die Türken“ runterzumachen, wehre ich mich generell gegen Begriffe wie „Lügenpresse“, „Gesindel“, „Gutmenschen“ „Pack“, „.....muss weg“. .. denn ich stelle mir den Ausgang dieses Familientreffens unter Verwendung des obigen Etikettierungs-Vokabulars vor.... womit wir wohl endgültig im Heute angelangt sind.

Gesellschaft/Politik/Bildung in Deutschland werden in diesem Blog meine Themen sein.

Auf wiederlesen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

walteranamur

Walter HelblingNeugieriger Grenzgänger zwischen den Kulturen, sozialkritisch, dank Rentnerstatus Zeit für alles, was mich interessiert.

walteranamur

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