Türkei:Vogel-Strauß-Politik Europas

Referendum Türkei Der Abschluss eines dreimonatigen medialen Bombardements durch die AKP, angeführt von Staatspräsident Erdogan und die Rolle Europas

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Heute finden in der Türkei die letzten Großveranstaltungen zum anstehenden morgigen Referendum statt. Alleine Erdogan wird an 4 solcher Meetings in Istanbul auftreten und mit Sicherheit werden diese Reden von den regierungsnahen Fernsehstationen live in die gesamte Türkei ausgestrahlt. Der Abschluss eines dreimonatigen medialen Bombardements durch die AKP, angeführt von Staatspräsident Erdogan, dessen Amt laut bislang gültiger Verfassung repräsentativer Art sein soll, was ihn aber seit Verhängung des Ausnahmezustandes im Juli 2016 überhaupt nicht interessiert.

Wer die Entwicklung der letzten Jahre in der Türkei etwas aus Distanz verfolgt, kann feststellen, dass hier eine Person auf dem Wege ist, sich größtmögliche politische Macht anzueignen und diese in einem kleinen Kreis aus Familienangehörigen und Vertrauten auszuüben. Alles andere darum herum ist Staffage, wie die letzten Monate gezeigt haben. Erdogan fordert, Parlament und Gerichte folgen, dies der Nenner. Um dieses Ziel zu erreichen, ist eine Strategie gewählt worden, welcher aus dem Ausland nicht punktuell sondern konzeptionell begegnet werden muss. Genau dies passiert jedoch nicht und damit spielt man Erdogan in die Hände, schafft sich ein gewaltiges Problem für die Zukunft.

Erdogans Politik der Nadelstiche in Richtung Europa

  • Flüchtlingspolitik: Allen europäischen Politikern brennen die Ereignisse 2015-16 noch wie eine frische Wunde. Unkontrollierte Einwanderung in Massen und Europa handlungsunfähig. Gelöst hat man dies, indem mit der Türkei ein fragwürdiger Deal ausgehandelt wurde, welcher Europa vor Flüchtlingen schützt, das Flüchtlingsproblem jedoch nicht löst. Wieviele Milliarden € wurden dafür überwiesen? Inklusive Mauerbau in Syrien?

  • Putsch vom 15. Juli: Ein Putschversuch von hoch geschätzt 8000 -10000 Militärs, wovon die untergeordneten Ränge offensichtlich „auf Übung“ abkommandiert wurden und aus welchem Erdogan wie Phönix aus der Asche aufstieg, den Putsch als „Geschenk Allahs“ bezeichnete. In der Folge Säuberungsaktionen bis zum heutigen Tag. Über 150 000 Beamte sind ihre Jobs los, Enteignungen in größtem Stil und die Vermögenswerte werden vom in finanziellen Nöten steckenden Staat übernommen. Bis heute gelingt es nicht, die wirklichen Hintergründe dieses Putsches aufzuklären, im Gegenteil, die Widersprüche mehren sich.

  • Presse: Seit November werden reihenweise Journalisten mit fadenscheinigen Vorwürfen festgenommen und kalt gestellt. Nach Monaten wird dann irgendeine Anklage erhoben, aber keine Verhandlung durchgeführt. Ganze Redaktionen sitzen da ein. Ins europäische Bewusstsein gelangt das alles nur, wenn es sich um einen Fall wie Yücel handelt. Noch viel erschreckender ist die Reaktion Deutschlands: Keine Wirtschaftshilfe, so lange Yücel inhaftiert bleibt! Das ist der Versuch punktueller Problemlösung und genau DAS was Erdogan in die Hände spielt. Hier kann er vor heimischem Publikum seine „Macht“ demonstrieren, indem er eine Auslieferung verweigert, wenigstens vor den Wahlen... Vor allem aber bleiben Opposition und die über 150 Journalisten in türkischen Gefängnissen auf sich alleine gestellt, erhalten spärlichen internationalen Support. Liste der geschlossenen Medien seit Juli 2016.

  • Wahlkampf in Europa: Zwei Wochen und das Anreisen einiger Politiker reichen, um in Europa eine politische Diskussion auszulösen, wie sie kontroverser nicht sein könnte. Das nennt man Beschäftigungstherapie des Auslands, um in der Türkei selbst ungestört für neue Verhältnisse sorgen zu können und sicher zu sein, dass sich da niemand mehr einmischen wird.

In den letzten Tagen in der Türkei:

  • Die Kämpfe im Südosten der Türkei gehen weiter und laut einer Bilanz Erdogans in einer seiner Reden, wurden in den vergangenen 18 Monaten rund 15 000 Terroristen in „etkisiz hale“ gebracht. Wir würden sagen getötet. An der Zahl stört sich niemand?

  • Im Südosten der Türkei wurden vor zwei Tagen über 200 Personen der HDP festgenommen, welche eigentlich am morgigen Wahltag zum Urnendienst eingeteilt waren. Vielfach sind in diesen Regionen weder CHP noch MHP vertreten. Über 60 Kommunen im Südosten erhielten in den letzten Wochen "staatliche Verwalter", die Bürgermeister sind abgesetzt.

  • Mediastudien für den März zeigen, dass das Erdogan-Lager bei TRT, dem öffentlich-rechtlichen Sender zum Thema Referendum auf einen Sendeanteil von über 80% kam. Doch auch die Privatkanäle stehen dem in nichts nach. Am vergangenen Mittwoch war dann der Oppositionsführer Kilicdaroglu für 19:00 bei TRT angekündigt. Wer den Fernseher einschaltete sah Erdogan sprechen und zwar bis 19:30.... Dann erst begann das Interview mit Kilicdaroglu.

Kopf in den Sand? Die drei Affen trifft es besser.

Journalisten ohne Grenzen haben vor 2 Tagen mit einer Presseerklärung die Rechtmäßigkeit dieses Referendums bezweifelt. Die Frage ist überfällig, beispielsweise mit Verweis auf die türkische Verfassung. Was sagt sie bezüglich Volkswahlen im Ausnahmezustand? Zu stellen ist sie politisch seit November, als das Referendum angekündigt wurde.

Genau so reaktionslos werden Vorgänge der letzten zwei Wochen geschluckt:

  1. Erdogan kündigt anlässlich einer Zusammenkunft mit Ortsvorstehern eine faktische Gehaltserhöhung um 30% für die 60 000 Amtsinhaber der Türkei an. Man könnte dies auch Rekrutierung von Wahlhelfern an der Basis bezeichnen.

  2. An einem Meeting in Erzurum zieht er die Karte Olympia-Bewerbung 2026.

  3. Der Finanzminister kündigt zwei große Umschuldungsprogramme für die Privathaushalte an.

  4. Nach jeder Erdogan-Rede in den Zeitungen zu lesen: „Cumhurbaşkanı Erdoğan'dan Avrupa'yı titretecek açıklama”Erdogans Äußerungen lassen Europa zittern. Ein Kernbestandteil jeder Erdoganrede ist, dass er mit einem Kübel Dreck nach Europa und den Nachbarländern schmeißt. Die Türkei ist von allen Seiten bedroht und nur Erdogan vermag das Land zu retten.

  5. Erdogan vergleicht seine Situation beim Putschversuch mit der Situation des Proheten Mohammed, der in seiner Höhle durch eine Spinne geschützt wurde, welche ein dichtes Netz spannte und damit die Sicht der Verfolger in die Höhle verhinderte. Alleine dieser Vergleich, diese Gleichsetzung hat in der Türkei aus verschiedensten Gruppen zu einem Proteststurm geführt. In Europa?

  6. Schon vergessen? Die HDP-Führung, deren Chef Demirtas als einziger Oppositionspolitiker Erdogans Pläne der letzten drei Jahre zu verhindern vermochte, sitzen immer noch in Haft. Die HDP ist führungs- und sprachlos. Demokratische Wahlen?

  7. In verschärftem Ton Pöbelei gegen alles, was nicht rein türkisch und oder nicht 100% auf seiner persönlichen Linie liegt. Dazu gehören auch internationale Wahlbeobachter. Dies in einem Land, welches sich wirtschaftlich seit Monaten nur noch dank ordentlicher Geldzuflüsse arabischer und westlicher Spekulanten wirtschaftlich auf den Beinen zu halten vermag, in welchem beinahe täglich einheimische Firmen ins Ausland verkauft werden.

All das wird in Europa widerspruchslos geschluckt – Nichts hören, nichts sehen, nichts sagen. Die drei Affen! - unter Wahlkampf abgebucht und ausgesessen in der Hoffnung „nach den Wahlen beruhigt sich das wieder“.

Eine krasse Fehleinschätzung. Erklärt mit Nadelstichen: Diese sind infisziert, statt Heilung Abszess, kennen wir schon seit 10 Jahren. Die Auswirkungen beschränken sich nicht einfach auf den künftigen politischen Umgang mit der Türkei, sondern werden auch Folgen für die türkischen Gemeinschaften in Europa, insbesondere in Deutschland haben.

Die Intensität der letzten Aktionen Erdogans zeigt, dass dieses Referendum für ihn bis vor zwei Wochen auf der Kippe stand, möglicherweise immer noch steht. In letzter Minute werden Milliarden aus dem Staatshaushalt in einen Wahlkampf geworfen, dessen einziges Ziel die Inthronisierung eines Autokraten ist. Die letzten Wahlgeschenke werden wir heute für Istanbul erleben. Demokratische Wahlen?

Es ist der in dieser Funktion bereits seit Sommer 2016 mit selbst erteilten Sondervollmachten agierende Staatspräsident, welcher dies alles auf den Weg bringt. Das Referendum soll ihm das Feigenblatt „demokratisch beschlossen“ liefern. All das wird in Deutschland bundespolitisch nicht thematisiert und falls doch, dann nach dem Referendum. Damit macht man dann Bundestagswahlkampf.

Ausgang des Referendums ?

Angesichts des betriebenen Aufwandes ist ein Ergebnis von unter 55% eine schwere Schlappe für Erdogan, auch wenn er dies anders darzustellen versuchen wird. Genau so natürlich eine Nein-Mehrheit. Person und Position werden angreifbar.

Ändern an den Verhältnissen in der Türkei wird sich allerdings nichts. Egal, wie das Referendum ausgehen wird: Erdogan holt sich seine Vollmachten nach Belieben durch Verlängerung des Ausnahmezustandes. So lange, bis die alten Strukturen endgültig aufgelöst sind. Das ist sein Gegenputsch auf den Putschversuch des Sommers 2016. „Legalisiert“ durch einen positiven Referendumsausgang, ansonsten genau so umgesetzt, um die "drohenden Gefahren aus dem Ausland" unter Ausnahmezustand abzuwehren.

Somit wird die Situation im Umgang Deutschlands und der EU mit der Türkei keineswegs einfacher, sondern auf die kommenden Jahre noch viel verfahrener.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

walteranamur

Walter HelblingNeugieriger Grenzgänger zwischen den Kulturen, sozialkritisch, dank Rentnerstatus Zeit für alles, was mich interessiert.

walteranamur

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