Günter Verheugen: Wie Deutschland am Frieden, statt weiter am Krieg arbeiten könnte

Ukraine GÜNTER VERHEUGEN hielt eine friedensorientierte Rede zum Ukrainekrieg -- glaubwürdig, weil er kein Fantast, sondern ein Macher internationaler Politik ist.Wie Deutschland fundamentalistisch „am Krieg und nicht am Frieden arbeitet“.

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Vor einer Woche hielt einer eine friedensorientierte Rede zum russischen Ukrainekrieg,
die glaubwürdig war, weil er kein Fantast ist,
sondern ein Macher internationaler Politik,
und der die beteiligten Kriegs-Politiker persönlich kennt.

GÜNTER VERHEUGEN sprach am 6. Juni 2023 darüber,
wie Deutschland mit seiner fundamentalistischen Ausrichtung von "wertebezogener Außenpolitik „am Krieg und nicht am Frieden arbeitet“.

Wer ist VERHEUGEN?

  • Er war bis 1992 im linken Flügel der FDP,
  • danach SPD, 1999 - 2010 in der EU-Kommission,
  • 2004 der Vordenker der großen EU-Erweiterungsrunde,
  • hat am 1. April 2023 einen Friedensappell namhafter deutscher Sozialdemokraten und Gewerkschafter an Bundeskanzler Olaf Scholz zur raschen Beendigung des russischen Angriffskrieges veröffentlicht;
    der neue Botschafter der Ukraine in Deutschland, Oleksii Makeiev, reagierte empört: "Der Appell hat nur eins zum Ziel: Die Verbrechen Russlands und dementsprechend die Verantwortung des russischen Regimes zu verschleiern."
    "Schert euch zum Teufel mit eurer senilen Idee, einen ‚schnellen Waffenstillstand‘ zu erreichen und ‚den Frieden nur mir Russland zu schaffen‘ ",
    wetterte der ukrainische Vizeaußenminister Andrij Melnyk.

-> www.sueddeutsche.de/politik/konflikte-kritik-der-ukraine-an-friedensappell-senile-idee-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-230402-99-182390

  • Verheugen unterschrieb auch (trotz einzelner Kritikpunkte) die von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht gestartete Petition "Manifest für Frieden"; sie wurde von 815.000 Menschen unterschrieben.

Bei der Vorstellung des Sammelbands

"Ukrainekrieg: Warum Europa eine neue Entspannungspolitik braucht" (Hrsg. Sandra Kostner & Stefan Luft/Uni Bremen)
-> www.westendverlag.de/buch/ukrainekrieg/

am 6. Juni 2023 plädiert Verheugen dafür, „wieder Gespräche mit Russland zu führen,
um eine Basis gegenseitigen Vertrauens aufzubauen“.

hier Verheugens Vortrag:
-> www.youtube.com/watch?v=aORMH7CGrmQ

hier zustimmende Rezensionen (große Medien ignorierten die Veranstaltung):
-> www.nachdenkseiten.de/wp-print.php?p=98962
-> www.tichyseinblick.de/feuilleton/buecher/ukrainekrieg-entspannungspolitik/

weitere aktuelle Interviews mit Verheugen:

-> www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/guenter-verheugen-willentlich-und-wissentlich-eine-linie-ueberschritten-li.316010

-> www.infosperber.ch/politik/ukraine-ueber-ursachen-nachdenken-ist-keine-beschwichtigung/

Verheugens sagte in seinem Vortrag

bei 29 min : 34 sec gegen die heutige "wertebezogenen Außenpolitik":
unter Genscher & Schmidt galt: 'Nichteinmischung dient unseren Interessen am besten.'“

30:05 : „problematisch ist, fundamentalistisch auf unseren Werten zu bestehen: 'Wer unsere Werte nicht teilt, ist unser Feind.'

31:00 : „Andere haben eben andere Werte -- wollen wir jetzt wie die blutrünstigen Päpste des MA zu Kreuzzügen aufrufen?
Wir müssen suchen, was uns gemeinsam bedroht, was uns dagegen hilft, was wir schaffen können."

31:50 : "Wir arbeiten nicht am Frieden, sondern am Krieg."

32:50 : „Wir müssen die Entspannungspolitik wieder aufnehmen:
Kooperation statt Konfrontation, Dialog statt Ausgrenzung, Interessenausgleich, gegenseitiger Respekt.“

36:30 : „Entspannungspolitik unter Brandt hieß nicht "Wandel durch Handel",
sondern "Wandel durch Annäherung": also zusammensetzen und reden über Ängste, Bedürfnisse, Interessen -- Vertrauensverhältnis schaffen.

39:30 : „nur Vertrauenswürdigkeit zählt in der internat. Politik

37:22 : „gemeinsame Sicherheit mit und nicht gegen Russland!
ansonsten: ungehemmter Rüstungswettlauf

38:23 : „wertebezogene Außenpolitik" muss sich orientieren am Grundwert des Lebens !

40:38 : „Europa macht sich zum Vasallen der USA, nur noch gehorsamer Statist,
ist kein Partner (mehr)

42:15 : „Wenn wir Russland aus Europa verdrängen, wird die Idee der gesamteurop. Einigung beerdigt; Gorbatschovs "gesamteurop. Haus" wird aufgegeben.“

Noch bis 2010 (als Verheugen noch in der EU-Kommission war) arbeitete die Kommission an:

  • "Harmonisierung der EU-russischen Regeln"
  • "technolog. Hilfen für Russland zum Aufbau einer exportfähigen Industrie"

45:40 „AfD-Popularität verdankt sich dem, dass SPD & Grüne die identitätsstiftende Wirkung einer Friedenspolitik unterschätzen.“

48:10 „Wir müssen hier zivilgesellschaftlich nicht Putin, sondern unsere Regierenden und unser Parlament beeinflussen.“

49:40 „Dieser Debattenraum müsste hierzulande erst einmal eröffnet werden!“

In ihrem Sammelband "Ukrainekrieg: Warum Europa eine neue Entspannungspolitik braucht" fordern die Herausgeber Sandra Kostner und Stefan Luft:

„wer eine stabile Friedensordnung in Europa will, muss zu einer Kooperationspolitik mit Russland zurückfinden“.

Sie kritisieren, dass die USA am 10. November 2021

das eindeutige Signal nach Moskau sendeten, dass sie nicht bereit waren, die russischen geostrategischen und sicherheitspolitischen Interessen zu berücksichtigen."

-> www.cicero.de/aussenpolitik/ukraine-russland-usa-interessen-krieg-sanktionen-olembargo

Biden fordert sogar einen "Regimewechsel in Russland", also Umsturz & Revolution.

Ich stimme Verheugen in fast allem zu, habe aber zwei kritische Anmerkungen:

(1) Bei der Präsentation dieses Sammelband blieb offen, warum die USA damit die früheren Ansätze von Entspannungspolitik in die Tonne traten.

Auch Verheugen kann nicht erklären, warum die westliche (und besonders EU-) Politik auf den Hund gekommen ist und Vertrauenswürdigkeit verspielt hat.
(Nicht nur) meine These ist: Der Westen trat Gorbatschovs "gesamteuropäischen Haus" in die Tonne, um den abgewirtschafteten zerfallenden russischen Imperialismus vollends kleinzukriegen -- zumindest bei konventionellen Waffen.

In diesem Sinn werden hier die imperialistischen Ziele des Westens so beschrieben:
"So setzt der Westen, ohne Rücksicht auf ukrainische Verluste und ohne eigene Opfer außer an Geld und Militärgerät, Stück um Stück sein Ziel in die Tat um, die konventionelle militärische Macht seines Gegners aufzureiben .
Die Eskalation, mit der er Russland zunehmend in die Defensive drängt, begleitet er auf der einen Seite mit der stereotyp wiederholten Erklärung, nach wie vor nicht Kriegspartei zu sein und auch nicht werden zu wollen. Wörtlich genommen wird diese Beteuerung zwar immer mehr zur Farce;
in etlichen NATO-Hauptstädten scheut man sich nicht, Abwehr- und Angriffserfolge der ukrainischen Armee als Triumphe der eigenen überlegenen Waffentechnik und Kompetenz in Aufklärung und Führung zu feiern."
-> https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/rueckblick-auf-10-monate-krieg-ukraine

(2) Verheugen argumentiert national :
Wenn er fragt: "WAS IST UNSER INTERESSE?" ,
dann meint er mit "uns" das deutsche & europäische staatliche INTERESSE.
Emanzipatorisch wäre es dagegen, als unser Interesse das Interesse von uns Bürgern zu sehen — oder auf Klassen bezogen: das Interesse der Mehrheit der Bürger, die keine Kapitalisten sind (hieß mal "Arbeiterklasse")

Rolle der EU nach Ende der Entspannungspolitik

Die Entspannungspolitik, die den Kalten Krieg beendet hat, ist den imperialistischen Ziele des Westens und Russlands zum Opfer gefallen.
Die atomaren Abrüstungsvereinbarungen sind dem Ukraine-Krieg zum Opfer gefallen:
Januar & Februar 2021 hatten noch Putin & Biden eine Verlängerung von "New START", den letzten großen atomaren Abrüstungsvertrag der beiden Atom-Supermächte, unterschriebenen. Doch im "August 2022 [erklärte] das russische Außenministerium , dass es Kontrollen von Atomwaffenbeständen im Rahmen des Abkommens vorerst aussetze ... wegen der Sanktionen gegen seine Flugzeuge in Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg“.
-> https://de.wikipedia.org/wiki/Russischer_Überfall_auf_die_Ukraine_2022
-> https://de.wikipedia.org/wiki/Strategic_Arms_Reduction_Treaty#New_START

GÜNTER VERHEUGEN sieht die Rolle der EU pessimistisch:

"Eine Vermittlerrolle entspräche der Natur [der EU] und ihrem Selbstverständnis als Friedensnobelpreisträger. Sie kann diese Rolle aber nicht übernehmen, weil sie spätestens nach den Enthüllungen der früheren Bundeskanzlerin, der gesamte Minsker Prozess sei nur zum Schein inszeniert worden, das wichtigste fehlt, was man zum Vermitteln braucht: Ein gewisses Maß an Grundvertrauen auf beiden Seiten."

"Kann die EU über den Ukraine-Konflikt hinaus überhaupt noch ihren Anspruch als globaler Akteur aufrechterhalten? Auch hier lautet die Antwort: Nein, das kann sie sehr wahrscheinlich nicht. In der Weltpolitik verschieben sich die Gewichte sehr massiv zu Lasten der EU. ...
[Nach GB und Türkei] scheidet auch das größte europäische Land, Russland, aus allen Überlegungen aus, angesichts der zukünftigen bi- oder multipolaren Welt wenigstens gesamteuropäische Kooperation auf den wichtigsten Feldern zu etablieren. Der Westen treibt Russland immer weiter in die Arme von China. ... Der sino-russische Block, der im Entstehen ist, hat unter Konfrontationsbedingungen ein furchterregendes wirtschaftliches und militärisches Potential
“. (am 7. April 2023)
-> www.cicero.de/aussenpolitik/china-russland-ukraine-krieg-treffen-putin-xi

"Die Nato [hat] das russische Verhandlungsangebot vom Dezember 2021 in den Kernfragen kühl zurück[ge]wies[en]. Dass dieses Angebot russische Maximalpositionen enthielt – geschenkt. Man beginnt Verhandlungen nicht mit Konzessionen. ... Wir werden immer mehr Mittel aufwenden, für den unproduktivsten aller Zwecke, nämlich für Rüstung. Und wir werden uns trotzdem nicht wirklich sicher fühlen. Weil die Erkenntnis, dass es dauerhafte Sicherheit und damit Frieden nur gemeinsam geben kann, kein historischer Irrtum ist ...“

-> www.cicero.de/aussenpolitik/soziologe-wolfgang-streeck-im-interview-es-gibt-keine-europaische-friedensordnung-ohne-russland

„... sondern eine Lehre aus unserer Geschichte, die von keiner „Zeitenwende“ ausradiert werden kann."

-> www.cicero.de/aussenpolitik/europaeischeunion-ukraine-russland-zeitenwende

«Das Verhältnis zwischen Deutschland und Russland muss gekittet werden»

Auf die Frage, ob sich nach dem Krieg in der Ukraine das Verhältnis zwischen Deutschland und Russland überhaupt noch kitten lässt, empfiehlt Verheugen:

«Eines Tages wird wieder miteinander geredet werden müssen, und je eher, desto besser. Für uns Europäer kann nur gesamteuropäische Partnerschaft die Antwort auf die immer grösser werdenden globalen Konflikte sein. Wir müssen bereit sein, Russland wieder die Hand zu reichen. Das wird nicht heute oder morgen geschehen und hängt stark davon ab, wie die politische Gestalt Europas nach dem Ukraine-Krieg sein wird. Es ist nicht hilfreich, einen Regime-Change in Moskau zur Voraussetzung für einen neuen Dialog zu machen. Denn darauf würden wir möglicherweise sehr lange warten müssen.»

-> www.infosperber.ch/politik/ukraine-ueber-ursachen-nachdenken-ist-keine-beschwichtigung/

Innenpolitische Folgen

Ich finde:
Wenn unsere GrünRotGelbSchwarzen Parteien darauf pfeifen,
eine Entspannungspolitik wieder aufzunehmen
und (auch wenn's gegenüber "Feinden" schwerfallen mag) ein Vertrauensverhältnis wieder aufzubauen,
dann treiben sie kriegsunwillige Menschen in die Fänge von Rechtspopulisten.

PS: Ein Freund antwortete mir auf diesen Text:

"Auch ich wäre froh, alle Parteien würden sich an einen Tisch setzen und miteinander reden anstatt weiter sinnlos Blut zu vergießen.
Doch die von Verheugen proklamierte Nichteinmischung hätte jedoch als Resultat gehabt, dass der Westen tatenlos mit ansieht,
wie ein völkerrechtlich anerkanntes Land von Russland eingenommen wird."

Ich schrieb ihm:
"Wieso tatenlos zusehen ?
Verheugen & Willy & Genschman (und auch F.J.S.) haben ja im Kalten Krieg nicht tatenlos zugeschaut ,
sondern mit dem Feind im Osten Kompromisse ausgehandelt -- mit Erfolgen (für den Westen)."

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Walter

Ich bin Dipl.soz.wiss, Dozent und Attac-Mitglied.

Walter

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