Warum Zahlen unsere Welt beherrschen

Buchkritik Die Ökonomin Jane Gleeson-White hat untersucht, was die Entstehung der doppelten Buchführung mit dem heutigen Gewand des Kapitalismus zu tun hat
Ausgabe 13/2015
Was war zuerst da: Kapitalismus oder doppelte Buchführung?
Was war zuerst da: Kapitalismus oder doppelte Buchführung?

Bild: Gerhard Leber/imago

Die Väter des Buchführungswesens hatten hehre Ziele: „Wir werden immer der Anständigkeit den Vorrang geben“, heißt es in der ersten schriftlichen Abhandlung über die venezianische Methode, Haben- und Sollbuchungen eines Kaufmanns immer getrennt aufzuführen. Sie stammt aus dem Jahr 1494, ihr Autor ist der Franziskaner und Mathematiker Luca Pacioli. Er gilt deshalb als Begründer dessen, was wir heute doppelte Buchführung nennen. Für Pacioli bestand das Ziel jedes Kaufmannes darin, „einen gerechten und angemessenen Gewinn zu erzielen, um sein Geschäft weiterhin betreiben zu können“. So sollte die Buchführung ein sittliches Korrektiv sein und einem Unternehmer helfen, nicht mehr Geld auszugeben, als er hat, um nicht ständig in Sorge um das eigene Geschäft sein zu müssen.

Wo waren solche anständigen Buchhalter in den Finanzkrisen der letzten Jahre? Die US-Ökonomin Jane Gleeson-White beginnt ihr Buch über die Geschichte der doppelten Buchführung mit der nüchternen Feststellung, dass Geschäftszahlen heute meist nicht mehr zu trauen sei. Die Bilanzen der großen Konzerne bestehen aus hochkomplexen und verzerrten Angaben. Ihre Buchführung wird längst durch externe Wirtschaftsprüfer vollzogen, die selbst keinerlei Kontrolle unterliegen. Das Buchführungswesen sei verkommen, schlussfolgert Gleeson-White.

Ihr Werk Double Entry erscheint nun in deutscher Übersetzung und ist weit mehr als eine Kulturgeschichte der doppelten Buchführung von deren Anfängen in Mesopotamien im siebten Jahrhundert über ihre Weiterentwicklung im Italien des 15. Jahrhunderts bis zu der gegenwärtigen Krise des Kapitalismus. An dem damit einhergehenden Wachstumsdogma übt sie fundamentale Kritik, nicht ohne dabei eine ebenso umfassende wie originelle Analyse zu bieten: die des Zusammenhangs zwischen der Verbreitung des Buchführungswesens und der Ökonomisierung aller Lebensbereiche. Kapitalismus und doppelte Buchführung, zitiert sie den Ökonomen Werner Sombart, sind so eng miteinander verknüpft, dass es kaum möglich ist, zu sagen, was davon Ursache und was Wirkung ist.

Sicher ist nur, dass im Zuge der Ausbreitung der Buchführung eine in Zahlen ausgedrückte, geldliche Gewinnermittlung möglich wurde, die sich heute in einem unbrechbaren Streben nach Profit ausdrückt. Dabei sollte eine strenge Buchführung die Entgrenzung des Wachstums ja eigentlich kontrollieren. Doch die Gegenwart zeigt, dass die Logik des Kosten-Nutzen-Kalküls heute in zahlreichen Lebensbereichen ihre Wirkung entfaltet. Die Welt wird von Zahlen regiert. Heute ist es selbstverständlich, dass der Sinn und Zweck jedes Geschäfts in der Erzielung eines möglichst hohen Gewinns besteht. Dabei sind die ausgegebenen Wirtschaftsdaten zwangsläufig einseitig. Zentrale Faktoren wie die Umweltkosten werden in der üblichen Unternehmensrechnung nicht beachtet. Das zeigt sich auch auf volkswirtschaftlicher Ebene. Das Bruttoinlandsprodukt, der Maßstab zur Messung des ökonomischen Wohlstands einer Nation, beinhaltet keine Berechnung der Kosten, die das Wirtschaftswachstum für unseren Planeten nach sich zieht.

Um die Herrschaft der Zahlen über uns und die ökologische wie soziale Zerstörung der Welt zu beenden, das zeigt Gleeson-White deutlich, braucht es also auch eine andere Buchführung. Eine grüne etwa, die die Umweltkosten in die volkswirtschaftliche Rechnung integriert.

Info

Soll und Haben. Die doppelte Buchführung und die Entstehung des modernen Kapitalismus Jane Gleeson-White Susanne Held (Übersetzung) Klett-Cotta 2015, 366 S., 24,95 €

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Geschrieben von

Jonas Weyrosta

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