Eine am Tag hell brennende Lampe

Merkwürdige Dinge Ralf Rothmanns Erzählband "Ein Winter unter Hirschen"

Nein, die Mitte gibt es nicht, weder im Leben noch in der Kunst, jedenfalls nicht in der ernstzunehmenden, die wieder mit dem Leben zu tun hat. Es existieren kein Zentrum und keine Mittelpunkte, dafür aber umso mehr "Grenzpunkte der Peripherie" (Nietzsche), von denen aus das Leben zwar keinen Sinn erhält, die aber mindestens neue Perspektiven im Gewohnten und Vertrauten aufleuchten lassen.

Egal ob eine Erzählung in Ralf Rothmanns neuem Buch im Dorf Berlin oder in der Metropole Paris, im fernen Irgendwo eines Reiselandes aus dem Katalog oder in der Ruhrregion spielt, dort, wo bislang alle Romane Rothmanns angesiedelt waren, immer beleuchten diese Texte kleine Ausschnitte aus jedermanns und mancher Frau Leben, behandeln Alltagsmenschen und unbekannte Mitmenschen. Nun also doch wieder: die Mitte? In eben dem Sinne, wie wir von der Mitte des Lebens, worin sich der ein oder andere Protagonist gerade aufhält, reden oder auch von einer Mittellage, denn mittlere, mittelmäßige Figuren sind es bei Rothmann allemal. Das macht sie uns so vertraut, so einprägsam, so penetrant - so rundum langweilig auch?!? Wenn da nicht jener meisterhafte Erzähler wäre, der in personaler Weise die Schicksale und Geschicke seiner Figuren auf keinen Höhepunkt und zu keinem Plot treibt - es handelt sich ja um Erzählungen und nicht um Short Stories! -, sondern nur in Andeutungen, oftmals raunend vorgetragen, in Ahnungen und Vorausankündigungen, aber doch plötzlich deutlich werden lässt, auf welch trügerischem Grund Alltäglichkeit aufgebaut ist. Irgendwann bricht der schwankende Boden auf, bricht die vormalige Sicherheit und Gewohnheit zusammen, blitzt unter der Oberfläche eine andere Art des Lebens auf, die Nachtseite der Existenz. Rothmanns Kunst und Eleganz besteht in der Beherrschung der Zwischentöne, im Mehrdeutigen, in demjenigen, wovon ein Philosoph wie Kant gesagt hätte, dass es uns viel zu denken veranlasst, unbestimmt was. Oder, um noch einen anderen Philosophen in Anschlag zu bringen, nämlich Georg Simmel, mit dem man über Rothmanns Erzählungen behaupten darf, dass sie wie Rätsel strukturiert sind, auf die vielerlei Antworten möglich sind.

Da vertritt etwa ein Junge seinen nach einem Arbeitsunfall gehandikapten Vater als Nachtwächter und eigentlich Aufpasser in einem Wohnheim für Gastarbeiter, die ihrerseits den Jungen zum ersten Besuch im Puff animieren. Wo er dann seinen Vater entdecken muss: "Gut sah er aus, entspannt und gütig, wie früher", bemerkt der Junge und rennt dann doch verstört in die Nacht hinaus, ziellos. Da ist die Geschichte von den zwei besten Freundinnen und der tatsächlichen Diskrepanz, da die eine, die Erzählerin, nur der "nützliche Idiot" für die andere ist, deren letzter Brief jedoch lautet: "Komm nach Berlin. Komm schnell. Ich hab keine richtige Freundin. Nicht eine." Da ist jener kauzige Eremit und Großstadtflaneur, der dem Jungen "Mütze" samt Hund begegnet, sich anfreundet und deren Tod im Straßenverkehr miterleben muss. War es wirklich so, oder ist alles bloß geträumt? Wer weiß! Da ist noch die Geschichte jenes MTA, der, obwohl sein Job gar nicht so schlecht ist, es dennoch satt hat, der ein besonders inniges Verhältnis zu jener älteren Patientin, genannt Brümmerchen, unterhält, die ins Koma fällt, reanimiert wird und ihren MTA damit überrascht, dass sie als einzige von seiner (noch nicht ausgesprochenen) Kündigung weiß. Woher? "›Wie können Sie das wissen?!‹ - Sie nickte, schluckte. ›Ja‹, .wiederholte sie endlich und schluckte. ›Wenn Sie mich so fragen, junger Mann...‹. Sie hob die Schultern, versuchte ein Lächeln, wobei die Prothese etwas verrutschte. ›Das weiß ich jetzt auch nicht.‹" Eben. Genauso ist es. Es geschehen so viele merkwürdige Dinge zwischen Himmel und Erde, dass unser Verstand viel zu klein dafür ist - welches Glück für die Phantasie und für so etwas wie die schöpferische Einbildungskraft, wenn sie Rothmanns Namen trägt!

Ralf Rothmann: Ein Winter unter Hirschen. Erzählungen. Suhrkamp-Verlag, Frankfurt am Main 2001, 194 S., 19,80 E

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