Let my people go

Lviv im Krieg #1 Zwischen Krieg und Normalität. Seit 14 Monaten leben die Menschen in der Ukraine mit dem Krieg. Am Sichtbarsten ist die Gefahr aus der Luft. Luftalarm kennt jeder, die meisten sahen auch schon Drohnen und Raketen am Himmel.

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In dem Craft-Beer-Restaurant Pravda könnte man vergessen, es herrscht Krieg. Die Hausband Pravda Beer Orchestra spielt wie in Friedenszeiten. Sogar ein Lied der russischen Band Leningrad ist im Repertoire. Die Partystimmung früherer Zeiten ist aber Vergangenheit. Das traurige Lied Bilya topoli der ukrainisch-polnischen Gruppe Enej erhält besonders viel Applaus. Als der Gospel-Klassiker Go Down Moses läuft, muß ich bei der Zeile "let my people go" an eine virtuelle Verhandlung zwischen Zelenskyy und Putin denken. Der Pharao gab Moses Leute frei. Putin will die Menschen zurück, die aber die Freiheit ohne die Knute des Kreml bevorzugen.

Die reichlich vorhandenen Biersorten im Pravda kommentieren Personen der Zeitgeschichte. Die Biersorte Trump ist ein Mexican Lager und erklärend steht auf der Flasche "President of the divided States of America". Auch Frau Ribbentrop mit den zur Raute geformten Händen und einem Blazer in Pink ist erhältlich.

Unwillkürlich stelle ich mir die Frage, ob jemand in dem Lärm der Musik den Luftalarm hören würde. Angriffe zwischen 19 und 21 Uhr abends sind selten. Die Luftalarm-App hätte keine Chance, auf mögliche Gefahren aufmerksam zu machen. Im vergangenen Jahr wurden die meisten Geschäfte bei Luftalarm sofort geschlossen, in manchen Cafés und Restaurants sieht man es etwas lockerer. Manche schließen, die meisten bitten die Gäste ins Gebäude, aber ich habe in einem Restaurant während des Luftalarms draußen weiter ein Bier getrunken. Die Bedienung kam aus Kharkiv und hatte am Anfang des Krieges täglichen Artilleriebeschuss erlebt. Ohnehin scheinen besonders die russischsprachigen Großstädte wie zum Beispiel Odesa viel stärker von Raketen- und Drohnenangriffen betroffen zu sein als die westlichen Städte. Für diese Menschen ist Lviv eine Erholung. Nicht jeder Ukrainer aus den stärker betroffenen Regionen ist in Lviv Flüchtling. Manche genießen die relative Ferne von stärker betroffenen Gebieten zur Erholung.

Vergangene Nacht war Kyiv dran. Was jeder erwartet hat. Das Stadtfest ist Anlass genug. Die russische Armee scheint besondere Tage zu lieben und schickte am 27. Mai 40 iranische Shahid-Drohnen. Eine Rekordzahl wie es heißt. 38 Drohnen konnten abgeschossen werden. Genaue Informationen erhält man nur sehr selten. Die Briten haben den Deutsxhen über umgedrehte Spione falsche Koordinaten übermittelt, damit deren V2-Raketen auf unbewohntem Gebiet einschlagen. Ganz so einfach ist es heute nicht, aber jeder Journalist erhält die Warnung, bei Schäden nichts zu photographieren und nur offizielle Stellungnahmen wiederzugeben. Zuwiderhandlungen können Menschenleben kosten. In Dnipro wurde vor einigen Tagen die größte Poliklinik der Stadt getroffen. Man weiß, welche Ziele die russische Armee ins Visier nimmt. Schließt ein Café während des Luftalarms nicht, ist man dort sicherer als in der Nähe eines Krankenhauses.

In dieser Nacht wurden unter anderem Odesa und Lviv angegriffen. Der Luftalarm begann um 2:45 Uhr und endete um 5:13 Uhr. Abgeschossene Trümmer einer Rakete setzten einen Schuppen in Brand, weitere Schäden konnten dank der funktionierenden Luftverteidigung verhindert werden. Von der Entwarnung habe ich überhaupt nichts mitbekommen, der nächtliche Luftalarm riss mich aus dem Schlaf. Kann man sich an den Luftalarm gewöhnen? Man kann. Häufig genug bekommt man ihn nicht einmal mehr mit, wenn nachts die Sirene ertönt. Nur in Lviv auch mit der Ansagee, man solle in Deckung gehen. Nur vom Band scheint die Stimme nicht zu kommen. Im Juni vergangenen Jahres sagte die Stimme, man könne jetzt ins Bettchen gehen, weil die Gefahr vorüber sei. Auf der Luftalarm-App wird immer mit einer menschlichen Stimme gewarnt. Die englische Sprachversion wurde von Mark Hamill (Luke Skywalker) eingesprochen. Möge die Macht mit den Angegriffenen sein...

Verglichen mit dem vergangenen Jahr fühlt man die Unterschiede zur Friedenszeit noch viel stärker. Im letzten Jahr sah ich im September noch ausländische Touristen, im Juni und September konnte ich Journalisten treffen. Das abendliche Treiben in Lviv gibts noch immer. Aber es wirkt noch weniger unbeschwert als 2022. Freunde, die ich gerne getroffen hätte, sind entweder an der Front oder ich weiß sogar nichts über ihren Verbleib. Schon vor der Fahrt hatte ich nicht das Gefühl von früher: Eine unbeschwerte Reise, bei der man feiern, sich streiten oder sich etwas erzählen kann. Die Ungewissheit nagt und fällt wie Mehltau. Von Deutschland aus fällt es schwer, das zu bemerken. Manche Deutsche fragten mich vor der Abreise, ob es überhaupt Strom gibt. Die Generatoren, die von Oktober bis Dezember die ukrainischen Städte mit Lärm erfüllt haben, sind längst eingemottet. Man diskutiert stattdessen über die 100%-Preiserhöhung für Strom. Die Schäden durch den vergeblichen Versuch der russischen Armee, die ukrainischen Zivilisten von der Stromversorgung abzusxhneiden, waren erfolglos, kosten aber ihren Preis. Immerhin gibt es Strom. Wer im russisch besetzten Mariupol lebt und seine ukrainische Staatsangehörigkeit nicht abgeben will, hat kein Anrecht auf eine Wohnung mit Stromversorgung. Eine medizinische Versorgung für Menschen mit einem ukrainischen Pass gibt es auch nicht.

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