Tod eines Reformers

Mikhail Gorbachov Der Friedensbotschafter der Welt, der gescheiterte Reformer oder der Totengräber einer Supermacht

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"Ich habe gehört, dass er es geschafft hat, die Welt zu verändern, aber sein Land nicht verändert hat. (...) Er hat uns dreißig Jahre Frieden geschenkt. Das Geschenk ist vorbei. Das Geschenk ist nicht mehr. Und es wird keine Geschenke mehr geben."
Dmitry Muratov

Mikhail Sergejevich Gorbachov starb am 30. August 2022. Als letzter KP-Chef und Staatspräsident der UdSSR wurde er zu der prägnantesten Person des ausgehenden 20. Jahrhunderts.

Auffällig ist die Diskrepanz, mit der Gorbachov in Westeuropa und in den Staaten der ehemaligen UdSSR gesehen wird. Im Baltikum wird er für den Versuch, die Unabhängigkeitsbestrebungen der baltischen Staaten auch mit Gewalt zu verhindern, negativ beurteilt. In Russland hört man, er sei für den wirtschaftlichen Niedergang und für den Verlust des Supermachtstaus verantwortlich, wobei bis heute viele Russen die UdSSR mit Russland gleichsetzen. In der Ukraine erinnert man sich bis heute daran, wie lange es dauerte, bis die Bevölkerung über den Reaktorunfall in Chernobyl informiert wurde. Die Feiern zum 1. Mai fanden in jeder ukrainischen Stadt Tage nach dem Reaktorunfall wie gewohnt statt. Eine Warnung über die radioaktive Strahlung gab es nicht.

Im Westen wird Gorbachov bis heute als der Architekt gesehen, der die deutsche Einheit ermöglichte und das Wettrüsten des Kalten Krieges beendete. Der Traum des gemeinsamen europäischen Hauses wurde Wirklichkeit. Aber ohne Russland. Russland ging nicht durch die Tür in ein gemeinsames Haus. Vergangene Schlachten und der Traum imperialer Größe bestimmen die Gegenwart. Gorbachovs Amtszeit war davon geprägt, wie sehr der Ausbau der Armee die Entwicklung des Landes behinderte.

Jede Deutung der Person Gorbachov hat seine Berechtigung, wobei anzumerken bleibt, die westliche Sicht auf Gorbachov, der hierzulande immer liebevoll mit "Gorbi"-Rufen begrüßt wurde, war romantisierend. Der Glaube an den Heilsbringer, der Europa in eine leuchtende Zukunft führen wird.

Die Erinnerung an Gorbachov ist verbunden mit der an Willy Brandt. Gorbachov bewunderte Brandt und wollte diesen kurz vor seinem Tod besuchen. Er klingelte erfolglos an dessen Haustür. Brandts Ehefrau Brigitte Seelbacher-Brandt schottete ihren Mann vollkommen von der Öffentlichkeit ab und ließ ein Treffen zweier Friedensnobelpreisträger nicht zu. Sie hätten einiges besprechen können. Beide scheiterten an die wirtschaftlichen Probleme ihres jeweiligen Staates. Brandt vermutlich eher, weil ihn wirtschaftliche Themen nie sonderlich interessiert haben. Gorbachov wurde von seinen Kritikern vorgeworfen, lediglich blumige Worte, aber nie Lösungswege vorgeschlagen zu haben.

Angesichts der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Probleme, die Gorbachov in einer seit Jahrzehnten stagnierenden Gesellschaft geerbt hatte, dessen Staatsmacht lediglich auf die Armee und die Sicherheitsdienste basierte, waren seine Reformbemühungen zum Scheitern verurteilt. Fallende Rohstoffpreise und die beginnende Digitalisierung waren zuviel für eine schwächelnde Staatsmacht.

Die Kritik an Gorbachov, die Wirtschaft seines Landes nicht reformieren zu können, zielt jedoch mehrfach ins Leere. Glasnost und Perestroika waren ein Aufruf, gemeinsam miteinander die Probleme zu diskutieren und Lösungen zu finden. Es war eine Abkehr gegenüber allen vorherigen Herrschern des Kreml, von denen das Volk Lösungen im Alleingang und von oben erwartete.

Erkennbar ist jedoch, Gorbachov selbst war ein Getriebener seiner Zeit, dessen Reformideen zumeist zu kurz sprangen. Als Kandidat des KGB (Andropov beförderte seine Karriere) wollte er das System retten und überlebensfähiger machen. Erst am Ende seiner Amtszeit orientierte er sich mehr an der deutschen Sozialdemokratie unter Willy Brandt, als der Leichengeruch des Einparteiensystems nicht mehr zu ignorieren war. Gorbachov gelang es, den aufgeblähten Militärhaushalt zu reduzieren und gemeinsam mit Ronald Reagan das Wettrüsten zu beenden. Die bürokrtische Lähmung des Landes war jedoch das weitaus größere Problem.

Das größte Verdienst Gorbachovs liegt sicherlich darin, das Scheitern seiner Politik letztendlich zugelassen zu haben, auch wenn der Zusammenbruch der morschen UdSSR nicht so unblutig verlaufen ist, wie es im Westen wahrgenommen wird. Die Blutbäder der Staatsmacht in Georgien (1991 und 2008), im Baltikum oder in Azerbaidzhan fanden halt unter Ausschluß der westlichen Öffentlichkeit statt. Auch das Scheitern wirtschaftlicher Reformen bedeute nicht das komplette Scheitern einer Politik. Zu lang wurde an eine vollkommen ineffektive Planwirtschaft festgehalten. Gorbachov dies vorzuwerfen bedeutet auch, die Fehler des Systems und das Ausufern der bürokratischen Ineffizienz zu ignorieren, die Gorbachovs Vorgänger verursacht haben.

Wenn man heute sagt, Gorbachovs Idee vom Erhalt der UdSSR wäre die Lösung gewesen, um nationalistische Exzesse in Osteuropa zu verhindern, so übersieht man, außer im Konflikt zwischen Armenien und Azerbaidzhan, welches ohnehin ein Erbe der Vergangenheit ist, gab es nur nationalistische Kriege, die der Kreml begonnen hat. Zweimal in Tschetschenien, in Georgien und seit 2014 in der Ukraine.

Eine Ironie der Geschichte, Gorbachov starb während des Krieges Russlands gegen die Ukraine. Mikhail Gorbachov sah sich nach dem Tod seiner über alles geliebten Frau Raissa ohnehin als Lebender auf Abruf, was er oftmals in Interviews auch betonte.

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