Ach, hätt’ ich doch Gefühle

Tragik Die Wasserfrau „Oceane“, nach dem Romanfragment Theodor Fontanes, betört an der Deutschen Oper Berlin
Ausgabe 18/2019

Romantische Mythen und Märchen erzählen von Nixen, Sirenen, Meerjungfrauen, von Undine, Melusine, Rusalka oder eben auch von Oceane. Vom Naturwesen, das die Menschen anzieht und abstößt. Von der fremden Frau, auf die besonders Männer ihre Sehnsüchte und Ängste projizieren. Die an der Gesellschaft scheitert, weil sie anders ist. Die auf Konventionen prallt, auf verlogene Moral.

Ein Stoff, der vielschichtig ausgedeutet und gestaltet werden kann. Unerfüllbare romantische Liebe ist zu finden, ebenso Gesellschaftskritik, feministischer Furor wie auch – halb Fisch, halb Frau – das Thema des sexuellen Andersseins. Die zeitlose Fantasiefigur belebt Literatur und Opernbühne. Dvořák, Debussy, E. T. A. Hoffmann, Lortzing, Wagner (mit den Rheintöchtern) haben sie vertont. Puschkin hat sie ebenso beschrieben wie Theodor Fontane. Der allerdings nur in einem schmalen Novellenfragment. Aus Anlass seines 200. Geburtstags hat der Schriftsteller Hans-Ulrich Treichel daraus ein Libretto geschaffen und der Komponist Detlev Glanert seine bereits elfte Oper. Die Uraufführung an der Deutschen Oper geriet zu Recht zum Triumph.

Neue Musik, ganz unradikal

Theodor Fontane war ja kein Romantiker, sondern ein großer Realist. Folgerichtig ist die Oper vor allem Gesellschaftssatire, aber auch das Porträt der rätselhaften Oceane von Parvefal. Die schwedische Sopranistin Maria Bengtsson singt sie betörend und spielt und tanzt sie ebenso furios. Im Kontrast dazu die grau und vor allem geistig uniformierte preußische Oberschicht in einem Hotel an der Ostsee. Der nationalistische Phrasen dreschende Pastor Baltzer erinnert an Michael Hanekes Film Das weiße Band.

Oceane sprengt die sittsam verklemmte Ballgesellschaft, ihr furioser Taumel erinnert an Salomes Tanz der sieben Schleier. So wie die Oper allein mit ihrer Stimme aus der Tiefe des Meeres beginnt, sich zu einem gewaltig stürmenden Seestück mit vollem Orchester plus Windmaschine steigert und das Vorspiel von Wagners Rheingold evoziert. Oceane und die Gesellschaft, in die sie gerät, finden keine gemeinsame Sprache – auch nicht in der Musik. Auch dort zwei Welten, aus deren Kontrast die Oper ihre musikalische Spannung bezieht. Glanert, ein Hamburger Schüler von Hans Werner Henze, straft Verächter Neuer Musik Lügen. Sie ist alles andere als unzugänglich, gerade weil sie die Oper nicht radikal erneuern will. Chor und Orchester unter Donald Runnicles in bestechender Form.

Der Unternehmer Martin von Dircksen verfällt Oceane. Aber die Fremde kann mit Leidenschaften dieser Art nichts anfangen. Sie folgt nur ihrer Neugier, ihrer Lust. Weil ihr das fehlt, was Menschen als „Seele“ bezeichnen. „Es gibt Unglückliche, die statt des Gefühls nur die Sehnsucht nach dem Gefühl haben, und diese Sehnsucht macht sie reizend und tragisch“, so Fontane. Sie kehrt zurück ins Meer – wenig märchenhaft singt Treichels Oceane: „Ich schneide mich aus dem Bild“ – auf der Bühne ist es ein Video von Wolken und Brandung, vor dem der kanadische Regisseur Robert Carsen die Kaiserzeit vorführt.

Die Opernwelt blickt in diesen Wochen auf Berlin, wo alle drei erstklassigen Häuser mit Uraufführungen aufwarten. Sie fiebert jetzt der Inszenierung Barrie Koskys entgegen. Am kommenden Sonntag folgt in seiner Komischen Oper das neue Werk M – Eine Stadt sucht einen Mörder nach Fritz Langs berühmtem Film.

Info

Oceane Detlev Glanert, Regie: Robert Carsen Deutsche Oper, Berlin

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