Es ist eine Zeitschleife, in der die SPD festsitzt. Alles ist genau so wie 2013. Auch damals sperrten sich die Jusos gegen die Bildung einer Großen Koalition. Sie benutzten exakt die gleichen Argumente: Mit der Union sei ein „Politikwechsel“ nicht möglich, aber ein Nein zur GroKo sei kein Nein zur Parteispitze. Der Parteivorsitzende Sigmar Gabriel verteidigte die Große Koalition mit den gleichen Sprüchen wie heute sein Nachfolger Martin Schulz: Eine Ablehnung des Koalitionsvertrags führe nicht zu mehr Gerechtigkeit, sondern zu weniger Gerechtigkeit, eine Große Koalition sei nun mal keine Liebesheirat.
Auch damals gab es eine kleine Welle von Eintritten in die SPD, und in den Medien wurden die gleichen Diskussionen geführt wie heute: Ist es nicht absurd, dass Leute in die SPD eintreten, um die Partei vom Regieren abzuhalten? Ist es nicht ein politischer Skandal, dass ein paar hunderttausend SPD-Mitglieder das Votum von 44 Millionen Wählern verbiegen dürfen? Manche erinnern sich bestimmt noch an den heftigen Schlagabtausch zwischen Sigmar Gabriel und der ZDF-Moderatorin Marietta Slomka über genau diese Frage.
Am 14. Dezember 2013 stand das Ergebnis des Mitglieder-Entscheids fest. Von den 474.820 SPD-Mitgliedern hatten sich 78 Prozent an der Abstimmung beteiligt. 76 Prozent sprachen sich für die Bildung einer Großen Koalition aus. Das bedeutete: 60 Prozent der Mitglieder hatten für ein Bündnis mit der Union votiert. Wird das Ergebnis 2018 wieder genauso ausfallen? Es spricht derzeit wenig dafür, dass sich die SPD aus ihrer Zeitschleife befreien kann.
Grund Nummer eins: die Umfrageergebnisse. Ende Januar ermittelte Infratest dimap für den ARD-Deutschlandtrend, dass die Einigung von Union und SPD zum Familiennachzug von Flüchtlingen von einer Mehrheit der Bevölkerung gutgeheißen wird. 54 Prozent befanden, die Begrenzung auf wenige Fälle gehe „in die richtige Richtung“. Den höchsten Zustimmungswert, nämlich 66 Prozent, gab es bei SPD-Anhängern. Während die Koalitionsunterhändler und viele Medien das Thema als besonders umstritten darstellten, war es weder für die große Mehrheit der Unionsanhänger noch für die große Mehrheit der SPD-Anhänger ein Knackpunkt. Im Gegenteil. Das weitere Abrutschen der SPD während der Verhandlungen deutet eher darauf hin, dass man es der eigenen Partei verübelt, so viel Zeit und Engagement für ein vergleichsweise unwichtiges Problem zu vergeuden.
Was die SPD-Anhängerschaft tatsächlich umtreibt, ist die mangelnde Gleichstellung der Frauen. Nicht einmal die Wähler der Grünen und der Linken empfinden dieses Problem so stark wie die Anhänger der SPD, und dazu zählen die Verkäuferin bei Karstadt, die Kassiererin bei Aldi und die Pflegekraft im Hospiz. 45 Prozent von ihnen erwarten, dass die Politik nicht später, sondern jetzt handelt. Einer Großen Koalition unter Merkel trauen sie dabei offenbar mehr zu, als man auf den ersten Blick erwarten würde. Während 52 Prozent der Bundesbürger eine erneute Große Koalition ablehnen, halten sie 52 Prozent der SPD-Anhänger für gut oder gar für sehr gut.
Grund Nummer zwei: die Alters- und Sozialstruktur der SPD. Das Durchschnittsalter der SPD-Mitglieder liegt heute bei 60 Jahren. Fast ein Drittel ist älter als 70 Jahre, über die Hälfte sind älter als 60. Nur acht Prozent sind 30 Jahre oder jünger. Mitte der 1970er Jahre lag der Anteil der unter 30-Jährigen noch bei 21 Prozent.
Um die Partei im Sinne der Jusos erneuern zu können, bedürfte es nicht bloß eines Neumitgliederschubs von 20.000 jungen „Rebellen“, es müssten gleich mehrere hunderttausend eintreten – wie jüngst bei Labour in Großbritannien. Zwar werden aus den SPD-Gliederungen Zuwächse gemeldet, aber in der Summe liegt das Plus kaum über dem Anti-GroKo-Hoch von 2013. Wie schnell solche Euphorieblasen platzen, zeigt die Entwicklung der letzten vier Jahre. Ende 2017 hatte die SPD wieder 30.500 Mitglieder weniger als Ende 2013.
Gewerkschaften trommeln
Relevanter für den Mitglieder-Entscheid ist eine andere Zahl: 42 Prozent der Sozialdemokraten sind zugleich Mitglied einer Gewerkschaft. Und die Gewerkschaften trommeln für eine Zustimmung zur GroKo. Für sie zählen nicht „große Würfe“ in die Zukunft, sondern kleine, kurzfristig erzielbare Verbesserungen für die kleinen Leute. Und tatsächlich enthält das Verhandlungsergebnis eine Vielzahl kleiner Verbesserungen, auch wenn es sich meist nur um Versprechungen handelt. Für die mittleren berufstätigen Jahrgänge der Partei wiegt außerdem schwer, dass es im Koalitionsvertrag kaum Verschlechterungen gibt: weder bei den Themen Arbeit und Steuern noch bei Gesundheit, Pflege und Rente. Die geplanten Investitionen in Wohnungsbau, Bildung und Digitalisierung nützen überdies den eigenen Kindern. Das mag nicht für einen fulminanten „Politikwechsel“ im Sinne der Jusos stehen, aber wozu soll ein „Politikwechsel“ überhaupt gut sein?
Gewerkschaftsorientierte Sozialdemokraten grübeln nicht lange darüber nach, welche langfristigen Folgen unterlassene Reformen haben könnten (wachsende Ungleichheit, Klimawandel, Umweltzerstörung, Abbau von Bürgerrechten, Flüchtlingswellen, Währungskrisen), sie spüren lieber im Portemonnaie, ob sich ihre Kleinfamilien kurzfristig mehr leisten können. Die letzten vier Jahre waren in dieser Hinsicht gar nicht so übel. Viele SPD-Mitglieder werden den Koalitionsvertrag also nicht danach beurteilen, ob er ihnen zu langweilig oder zu wenig großartig erscheint, sie werden eine pragmatische Entscheidung auf der Grundlage ihrer persönlichen Interessen fällen.
Grund Nummer drei: die Erfolge in der Provinz. In der breiten Mitgliedschaft ist die SPD stets eine kommunalpolitische Partei geblieben: bodenständig, kompromissbereit und ideologiefrei. Wo sie diese Stärken auszuspielen versteht, ist sie bei Wahlen erfolgreich, wie zuletzt im Oktober in Niedersachsen. Es gab nicht den Hauch einer Debatte, ob die Bildung einer Großen Koalition in Niedersachsen dem Geist der Partei widersprechen könnte. Sie war eben notwendig. Eine andere Koalition stand nicht zur Verfügung. In der niedersächsischen SPD hält man auch wenig von der These, Große Koalitionen oder die Kanzlerin seien verantwortlich für den Niedergang der SPD. Das habe die Partei ganz allein verbockt – durch mangelnde Verankerung in der Gesellschaft. Man müsse halt wieder zurück in die Schützenvereine und zur freiwilligen Feuerwehr. Von abstrakten Politikwechsel-Debatten und NoGroKo-Aktionen ist diese Haltung meilenweit entfernt.
Es gibt allerdings eine klitzekleine Unwägbarkeit, die 2018 vom Jahr 2013 unterscheidet. Und die könnte die SPD aus der Gefangenschaft in der Zeitschleife befreien: Die konservativen, meist älteren SPD-Genossen aus der Provinz erwarten von ihrer Partei eine gewisse Führungsstärke. August Bebel, SPD-Vorsitzender von 1892 bis 1913, wurde als „Arbeiterkaiser“ respektiert und verehrt. Manche seiner Nachfolger haben von diesem autoritären Korpsgeist profitiert. Was der heutige SPD-Vorstand an Hilflosigkeit bietet, ist diesem Genossen-Typus, der vielleicht noch 25 Prozent der Mitgliedschaft ausmacht, ein Graus. Er könnte aus Protest gegen den Autoritätsverfall in seiner Partei den Gehorsam verweigern. Und zwar ausgerechnet im Verbund mit den rebellierenden Jusos. Nur wenn sich die Alten mit den Jungen gegen die gewerkschaftsnahen Mittelschichten der Partei verbünden, wäre eine Mehrheit gegen die GroKo möglich.
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