Denken in Dekaden

SPD Mit dieser Urwahl verschafft ein Bündnis aus Jusos und Altgenossen der Partei doch noch Zukunftsperspektiven
Ausgabe 49/2019
Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken am 30. November im Willy-Brandt-Haus
Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken am 30. November im Willy-Brandt-Haus

Foto: Axel Schmidt/AFP/Getty Images

Lediglich 54 Prozent der 425.630 SPD-Mitglieder haben an der Abstimmung über den Parteivorsitz teilgenommen – warum? Diese Frage stellten sich nach der Bekanntgabe des Ergebnisses und der Verarbeitung des ersten „Schocks“ über den Wahlausgang viele Beobachter. Müssten nicht 100 Prozent der Mitglieder einer Fortschrittspartei brennend daran interessiert sein, über die künftige Führung mitzubestimmen? Müssten sie nicht scharenweise zu den Urnen strömen in einer Situation, in der die Wahl zwischen zwei Bewerberpaaren eine politische Richtungsentscheidung und zugleich ein Votum über den Verbleib oder Nichtverbleib in der Regierung ist? Warum haben 200.000 Mitglieder diese Wahl einfach ignoriert?

Ein ganz banaler Grund könnte sein, dass schwächelnde Parteien in Krisenzeiten mehr „Karteileichen“ in ihren Mitgliederlisten führen, als sie nach außen hin zugeben wollen. Da die Mitgliedsbeiträge nach individuellem Einkommen gestaffelt sind, müsste der durchschnittliche Zahlbetrag pro Mitglied das gesellschaftliche Durchschnittseinkommen in etwa abbilden. Doch die in den Rechenschaftsberichten der Parteien genannten Einnahmen vermitteln eher den Eindruck, als würde der Großteil der Parteimitglieder im Niedriglohnsektor arbeiten, BAföG, Hartz IV oder Grundsicherung beziehen. Vermutlich drücken „Mitglieder“, die gar nichts bezahlen, weil sie inaktiv, im Pflegeheim oder gestorben sind, den Durchschnittsbeitrag nach unten. Das Mitzählen solcher „Karteileichen“ zur Beschönigung des Parteizustands wäre eine plausible Erklärung für den großen Anteil von Nichtwählern.

Eine weniger banale Erklärung wäre: Das personelle Angebot der SPD war nicht attraktiv genug. Offenbar konnte keines der Kandidaten-Paare so überzeugen, dass man unbedingt einen Wahlzettel ausfüllen wollte. Die Zahl der Nichtwähler legte somit unfreiwillig offen, wie ausgezehrt die Partei personell ist. Die Mitglieder wollten oder konnten sich nicht entscheiden.

Die eigentliche Sensation

Es könnte sich aber auch um eine bewusste Unterlassungshandlung der Basis gehandelt haben, eine Art Retourkutsche gegen die Führung, nach dem Motto: Wenn wir euch so wenig bedeuten, dass man euch wochenlang beknien muss, bis überhaupt jemand zur Kandidatur bereit ist, und es reihenweise Absagen hagelt, dann zeigen wir euch jetzt mal, was ’ne Harke ist. Dann verhalten wir uns so, wie ihr euch uns gegenüber verhaltet. Mit anderen Worten: Die Führung konnte nicht mehr, und die Basis wollte nicht mehr. Nach Lenin ist das die präzise Definition für eine Aufstandssituation.

Dass es in einer eher autoritär geführten Partei wie der SPD zu einem Aufstand der Mitglieder kommt und nicht, wie es unter Linken sonst üblich ist, zu stillen Austrittswellen, Abspaltungen oder Neugründungen von Splitterparteien, ist die eigentliche Sensation des Wahlausgangs vom 30. November. Daher spiegelt der innerparteiliche Aufstand auch nicht „die Tragik der Sozialdemokratie“ wider oder die fatale „Lust an der Selbstzerstörung“, wie konservative Journalisten behaupten, nein, der Aufstand der Genossen funkt ein unverhofftes Lebenszeichen in die Außenwelt. Denn kaum jemand hatte geglaubt, dass sich in der erschöpften SPD nach Jahrzehnten des Niedergangs und des widerstandslos hingenommenen Verschleißes von sage und schreibe 18 Parteivorsitzenden seit Willy Brandts Rücktritt 1987 noch so etwas wie Leben regen würde.

Ein erster Vorschein des kommenden Aufstands zeigte sich schon beim außerordentlichen Parteitag in Wiesbaden im April 2018. Damals erreichte die bundespolitisch völlig „unerfahrene Außenseiterin“ Simone Lange gegen die haushoch favorisierte Profi-Politikerin Andrea Nahles aus dem Stand 27,6 Prozent. Simone Lange hatte ihre Kandidatur dabei ausdrücklich mit einem klaren Nein zur GroKo verknüpft.

Jetzt, knapp 20 Monate später, ist den GroKo-Kritikern ein Durchbruch gelungen. Doch das Ergebnis ist kein rauschender Sieg, sondern ein politisches Patt, ein Unentschieden, das sich am Zögern und Zaudern des Gewinnerpaars, ob man die Große Koalition tatsächlich „schon jetzt“ verlassen soll, ablesen lässt. Damit riskiert die neue Parteiführung, das gerade gewonnene Heft des Handelns gleich wieder zu verlieren: Lässt sie den Parteitag ohne den erwarteten „großen Knall“ verstreichen und verschiebt sie die Entscheidung in „Nachverhandlungen“ oder „Gespräche“, verliert sie mit jedem Tag an Glaubwürdigkeit. Stürzt sie die Regierung dagegen mit dem erwähnten „großen Knall“, wird sie sich dereinst vor dem Weltgericht verantworten müssen. Als die SPD das letzte Mal eine Große Koalition platzen ließ, am 27. März 1930, folgten Heinrich Brüning, Franz von Papen und das baldige Ende der Weimarer Demokratie.

Es ist aber nicht nur das historische Trauma, das viele GroKo-Kritiker zögern lässt. Aufgrund der großen Zahl von Nichtwählern kann weder das Paar Scholz/Geywitz noch das Paar Esken/Walter-Borjans beanspruchen, die Mehrheit der Mitglieder hinter sich zu haben. Die beiden designierten Vorsitzenden bilden deshalb nur eine Art Übergangsvorstand. Ob sie sich länger halten können als Andrea Nahles (14 Monate), Martin Schulz (11 Monate) oder Rudolf Scharping (29 Monate), ist ungewiss. Denn ein neues Machtzentrum hat sich noch nicht gebildet. Die Fraktion wird geräuschlos und weitgehend neutral vom „Notvorsitzenden“ Rolf Mützenich verwaltet, der zur „Parlamentarischen Linken“ zählt. Und weder die rechten Seeheimer noch die „Parlamentarische Linke“ lassen erkennen, was sie nun vorhaben. Sogar der rechte Wadenbeißer Johannes Kahrs verhält sich sanft wie ein Golden Retriever. Alle wollen erst mal in die Partei „hineinhorchen“.

Auch die SPD-Minister an der Seite des Vizekanzlers warten ab. Auf Twitter richteten sie blasse Glückwünsche an das Gewinnerpaar und verwiesen ansonsten auf wichtigere weltpolitische Themen und die supertollen „Jahrhundertgesetze“ der Großen Koalition. Von den sieben Ministerpräsidenten der SPD ist einer auf energische Weise führungsunwillig (Stephan Weil), eine ist krank (Manuela Schwesig), eine auf dem Rückzug in die Provinz (Malu Dreyer), einer im Hamburger Wahlkampf (Peter Tschentscher), einer praktisch unbekannt (Andreas Bovenschulte), einer mit der Bändigung einer Kenia-Koalition beschäftigt (Dietmar Woidke) und einer komplett von Berliner Wachstumsschmerzen absorbiert (Michael Müller). In die Bundespolitik strebt keiner von ihnen.

54 Prozent sind älter als 60

Bleiben die Arbeitsgemeinschaften, allen voran die Jungsozialisten. Die Jusos sind die Einzigen, die ein klares, nachvollziehbares Motiv für den Aufstand gegen das Partei-Establishment haben. Sie wollen – wie Juso-Chef Kevin Kühnert im Dezember 2017 klarstellte –, dass von diesem Laden in 15 Jahren „noch was übrig ist“. Mit ihnen haben sich jene Altgenossen verbündet, die Willy Brandt und Herbert Wehner als Leitfiguren ihrer Jugend verehrten. Oder Otto Brenner, Erhard Eppler, Jochen Steffen, Peter von Oertzen, Marie Schlei und Gustav Heinemann. Denn 54 Prozent der SPD-Mitglieder sind heute über 60, 30 Prozent sogar über 70. Es sind die alt gewordenen Jusos, die den Juso-Aufstand von 1969/70 miterlebt haben. Als Großeltern machen sie jetzt mit ihren politischen Enkeln gemeinsame Sache.

Die Jusos, das erklärt sich schon rein biografisch, müssen in längeren Zeiträumen denken. Nicht in Legislaturperioden, sondern in Dekaden. Das haben sie mit der Klimaschutzbewegung gemein. Ihr politisches Ziel ist eine Mehrheit diesseits der Union, und dieses Ziel werden sie nach Lage der Dinge frühestens Ende der 2020er Jahre erreichen: entweder als Juniorpartner der Grünen und Linken oder als Teil einer Dreier-Koalition aus annähernd gleich starken Partnern. Inhaltlich sind sie längst kompatibel, ihre Wahlprogramme von 2017 waren in vielen Punkten erstaunlich deckungsgleich, doch die mittelalte Funktionärsgarde der unflexiblen Sozialdemokraten sah darin keine politische Perspektive.

Nun werden die Grünen höchstwahrscheinlich den Versuch unternehmen, wie Willy Brandt in den 1960er Jahren über eine Große Koalition mit der Union eine grün-rot-rote Koalition unter ihrer Führung vorzubereiten und im liberalen Bürgertum salonfähig zu machen. Dass die SPD, wie Olaf Scholz im SPD-internen Wettstreit unablässig glauben machen wollte, je wieder zur alten Stärke zurückfinden könne und damit automatisch Anspruch auf die Besetzung des Kanzleramts habe, ist dagegen illusionär. Die gesellschaftliche Entwicklung ist über die Volksparteien der Nachkriegszeit hinweggegangen.

Olaf Scholz, der Traumtänzer

Das heißt, die schwächer werdende SPD muss ihre neue Rolle erst noch finden. Das passende Spitzen-Personal hat sie jetzt. Denn gerade in der Akzeptanz der Tatsache, dass sie nicht mehr die tolle 45-Prozent-Partei von 1972 ist, liegt der entscheidende Grund, warum Esken und Walter-Borjans trotz fehlender „Erfahrung“ und mangelnden „Charismas“ gegen Klara Geywitz und Olaf Scholz gewinnen konnten. Anders, als viele Journalisten es darstellten, waren im Wettkampf um den SPD-Vorsitz nämlich nicht Scholz/Geywitz die erfolgreichen Realisten und Pragmatiker und Esken/Walter-Borjans die Traumtänzer und geborenen Verlierer. Es war genau umgekehrt. Esken und Walter-Borjans, die sympathisch und bescheiden auftraten und von der Mehrheit der aktiven Mitglieder gewählt wurden, sind die eigentlichen Realisten, während das Verliererpaar Scholz/Geywitz samt den prominenten Unterstützern aus Partei- und Medien-Establishment als unbelehrbare Traumtänzer erscheint, die noch immer der Illusion der großen Volkspartei erliegen und gegen jede politische Vernunft und gegen jede Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse daran festhalten. Sie ignorieren die Wirklichkeit der SPD, und diese eklatante Fehleinschätzung kann nichts anderes hervorbringen als eine verfehlte, bestenfalls schöngeredete Politik. Eine ehrliche Politik, das wussten schon Ferdinand Lassalle, Rosa Luxemburg und Willy Brandt, beginnt mit der Anerkennung der Realitäten. Männer wie Scholz, die den „riesigen Erfolg“ der Grundrente loben, ignorieren, dass es die Regierungspolitik der SPD war, die eine Grundrente überhaupt nötig machte. Weder ist die Mehrheit der SPD-Mitglieder so blauäugig, das auszublenden, noch sind die Wähler so dumm, das zu vergessen. Der „Riesenerfolg“ der Grundrente ist – so bitter das klingen mag – ein Armutszeugnis für die SPD.

Am deutlichsten trat die notorische Ausblendung der Wirklichkeit durch das Team Geywitz/Scholz in einer kleinen Episode am Rande des Paar-Wettstreits zutage. Auf den Vorschlag von Walter-Borjans, im nächsten Bundestagswahlkampf auf einen eigenen SPD-Kanzlerkandidaten zu verzichten und lediglich einen Spitzenkandidaten zu benennen, reagierte Olaf Scholz mit heftiger Genossenschelte. „Wer das tut, macht die SPD klein – und das hat die Sozialdemokratische Partei nicht verdient.“ Scholz glaubte, mit seiner Kritik den wunden Punkt des Konkurrenten getroffen zu haben, und wurde im weiteren Verlauf der Debatte nicht müde, die Haltung von Walter-Borjans und Esken als parteischädigendes „Schlecht- und Kleinreden“ zu brandmarken. Man dürfe sich nicht mutwillig selbst verzwergen, sondern müsse stur und stolz behaupten, die SPD sei einer Kanzlerschaft so nahe wie lange nicht. Dann werde es mit dem Sieg schon klappen. Dieser beunruhigende Realitätsverlust ist der eigentliche Grund, warum sich die SPD-Mitglieder am vergangenen Samstag gegen die Traumtänzer und für die sozialdemokratischen Realisten entschieden haben.

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Geschrieben von

Wolfgang Michal

Journalist; Themen: Umbrüche & Entwicklungen

Wolfgang Michal

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