Oft sind es die kleinen Dinge, die große Veränderungen bewirken. Sie kommen harmlos daher und werden so unspektakulär eingeführt, dass sie der öffentlichen Aufmerksamkeit entgehen. Manche sagen, das sei ihr Zweck.
Am 19. März 2020, die Corona-Krise war erst wenige Wochen alt, verschickte das Bundeswirtschaftsministerium ein Rundschreiben an alle Bundesressorts, Länder und Kommunen. Gegenstand des Schreibens war „die Anwendung des Vergaberechts im Zusammenhang mit der Beschaffung von Leistungen zur Eindämmung der Ausbreitung des neuartigen Coronavirus SARS-CoV-2“. In umständlicher Bürokratensprache machte das Ministerium deutlich, dass ab sofort alle zur Krisenbekämpfung erforderlichen Einkäufe der öffentlichen Hand, „schnell und verfahrenseffizient“ über das „Verhandlungsverfahren ohne Teilnahmewettbewerb“ erfolgen können. Bei Ereignissen, die der Staat nicht voraussehen kann, sieht die Vergabeordnung nämlich in Paragraf 14, Absatz 4, Punkt 3 ihre eigene Suspendierung vor. Das bedeutet, dass öffentliche Ausschreibungen nicht mehr nötig sind, ja mehr noch: dass staatliche Stellen von nun an Aufträge freihändig und völlig intransparent vergeben können. „Zwar empfiehlt es sich“, so das Rundschreiben weiter, „im Sinne einer effizienten Verwendung von Haushaltsmitteln nach Möglichkeit mehrere Unternehmen zur Angebotsabgabe aufzufordern. Sollten es die Umstände – wie in der jetzigen Situation – aber erfordern, kann auch nur ein Unternehmen angesprochen werden.“ Das Wort „ein“ ist mittels Kursivschrift hervorgehoben. Mit diesem Freibrief genehmigte sich der Staat die Erlaubnis, alle bis dahin hochgehaltenen Wettbewerbsregeln außer Kraft zu setzen und Leistungen völlig unkontrolliert zu jeder Bedingung und zu jedem Preis einkaufen zu können.
Der Freibrief
Ein „Freibrief“ ist das Rundschreiben auch insofern, als alle nachträglichen Klagen über staatliche Misswirtschaft, Amigo-Klüngelei oder Korruption mit dem Verweis auf die Vergabeordnung abgeschmettert werden können. So geschehen, als Bundesgesundheitsminister Jens Spahn Ende März 2020 hastig ein „Open House Verfahren“ zur Beschaffung von Schutzmasken in Gang setzte. Jede Firma, die hoch und heilig versprach, bis zum 30. April mindestens 25.000 Schutzmasken zu einem bestimmten Preis zu liefern, sollte automatisch einen Zuschlag bekommen. Da der Abnahmepreis (4,50 Euro für eine FFP2-Maske, 60 Cent für eine OP-Maske) hohe Gewinne garantierte, meldeten sich Hunderte von Anbietern. Am Ende waren es so viele, dass der überforderte Minister die Abwicklung des Geschäfts (Auftragswert rund eine Milliarde Euro) ohne Ausschreibung an die im Haus bekannten Wirtschaftsprüfer von Ernst & Young vergab, für ein sattes Beraterhonorar von 9,5 Millionen Euro. Als sich ein Hanauer Anwalt über das intransparente Verfahren beschwerte – er hätte die Abwicklung auch gern übernommen –, wurde er von der zuständigen Kammer mit dem Hinweis abgebürstet, in einer „Notlage von nationaler Tragweite“ seien derartige Hinterzimmergeschäfte rechtens.
Die Corona-Krise ist ein Eldorado für die klassische Klüngel- oder Amigo-Wirtschaft. Laut einer Kleinen Anfrage der FDP-Fraktion hat allein der Bund bis zum 4. Dezember 2020 5,7 Milliarden Schutzmasken im Wert von fast sechs Milliarden Euro bestellt, viele davon mangelhaft, die meisten werden ungenutzt vergammeln. Spahn bestätigte auch, dass es im Frühjahr 2020 „zahlreiche Hinweise auf Maskenangebote von Abgeordneten, Kommunalpolitikern oder Bürgern“ gegeben hat. Wobei „Bürger“ hier eher Firmenvertreter, Lobbyisten oder Geschäftemacher meint.
Einer der hilfsbereiten Abgeordneten war der stellvertretende Vorsitzende der Unionsfraktion im Bundestag, der CSU-Abgeordnete Georg Nüßlein. Er soll im März 2020 mehrere Angebote über Schutzmasken an die Bundesregierung und verschiedene Landesregierungen weitergegeben haben. Dabei kümmerte er sich besonders fürsorglich um zwei Firmen aus dem Raum Offenbach und seinem Wahlkreis Neu-Ulm. So drängte er offenbar das Gesundheitsministerium, die Masken-Rechnungen unverzüglich zu begleichen. Allein Bayern kaufte für 14,2 Millionen Euro. Für seine Vermittlungsdienste soll Nüßlein, der im Nebenjob die Wirtschaftsberatung Tectum Holding betreibt, laut Generalstaatsanwaltschaft München 660.000 Euro „Beraterhonorar“ kassiert haben. Wie das Magazin Business Insider berichtet, sei das Geld – um die Herkunft zu verschleiern – über den Umweg einer Briefkastenfirma in der Karibik nach Liechtenstein geflossen. Ob sich der Anfangsverdacht der „Bestechlichkeit“ gegen Nüßlein erhärtet, kann aber erst die Auswertung der beschlagnahmten Unterlagen zeigen.
Weniger dreist, dafür umso gewinnbringender verlief das Maskengeschäft, das die Tochter des ehemaligen CSU-Generalsekretärs Gerold Tandler einfädelte. Sie vermittelte im März 2020 Kontakte zur Schweizer Emix-Holding, einem jungen Start-up-Unternehmen, das sich frühzeitig in China mit Masken eingedeckt hatte. Da neben der Tandler-Tochter noch die Strauß-Tochter Monika Hohlmeier, ihres Zeichens Europaabgeordnete, als seriöse Beglaubigung eines vermeintlich guten Geschäfts auftauchte, bestellten der Bund und die Länder NRW und Bayern Masken zu absoluten Mondpreisen bei Emix. Für eine FFP2-Maske wurden zwischen 8,90 und 9,90 Euro netto hingeblättert. Spahn soll gleich für 350 Millionen Euro bestellt haben. Die beglückten Jungunternehmer investierten ihre satten Gewinne sofort in einige Bentleys und Ferraris. Man gönnt sich ja sonst nichts vom Steuergeld anderer Leute.
Noch ein weiteres Kind eines bekannten Unions-Politikers wurde im März 2020 aktiv: Johannes „Joe“ Laschet, Sohn des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten. Da „Joe“ als Model und Mode-Influencer einen eigenen Instagram-Account für Hemden & Hosen betreibt, gab er seinem Vater die Telefonnummer seines Werbepartners, des Mönchengladbacher Modeunternehmens van Laack. Das könne sicher auch Masken und Schutzkittel herstellen. Gesagt, getan. Armin Laschet telefonierte und wenige Tage später vereinbarte seine Regierung einen Deal über 45 Millionen Euro. Zwar beschwerten sich einige Firmen, dass der Ministerpräsident bei ihnen nicht angerufen habe, und die SPD geißelte die „Vetternwirtschaft“ bei Laschets, aber – wie gesagt – in einer Notlage erlaubt die Vergabeordnung fast alles. Noch mehrmals soll die NRW-Polizei Masken bei van Laack geordert haben, was im Amtsblatt der EU nicht vermerkt wurde, „um die Warenlieferung nicht zu gefährden“. Für die Beschaffung von persönlicher Schutzkleidung hat NRW fast eine halbe Milliarde Euro ausgegeben.
Im Zentrum der krisenbedingten Beschafferei steht natürlich der Bundesgesundheitsminister. Auf ihn richten sich die Begehrlichkeiten, mit ihm möchte man auf gutem Fuß stehen, denn er kann in der Krise sehr viel Geld verbraten. Jens Spahn genießt das. Schon im Sommer 2020 summierten sich die Verträge des Bundes über die Lieferung von Masken, Schutzkitteln, Brillen, Handschuhen, Desinfektionsmitteln und Beatmungsgeräten auf knapp sieben Milliarden Euro. Bei sechs Medizintechnikherstellern orderte Spahn – freihändig, ohne Wettbewerb – über 26.000 Beatmungsgeräte. Bei sechs Impfstoffherstellern wurden für 3,1 Milliarden Euro 315 Millionen Dosen eingekauft, nur mit der Lieferung hapert es. Die weitgehend nutzlose Corona-Warn-App kostete 70 Millionen Euro. Bei elf Testproduzenten hat sich der Minister ein Kontingent von 545 Millionen Schnelltests gesichert. Frei erwerbbar sind die Tests aber auch fünf Monate nach ihrer Ankündigung nicht. Von dem 400 Millionen Euro teuren Ankauf von umstrittenen Antikörper-Medikamenten bei US-Konzernen hat man schon lange nichts mehr gehört.
Spenden-Dinner in Leipzig
Egal! Die Gesundheitsindustrie hat ein Rieseninteresse, den kauffreudigen Minister bei Laune zu halten. Er ist ja im Grunde einer der ihren. Schon als junger Abgeordneter saß Spahn im Gesundheitsausschuss des Bundestages und arbeitete nebenberuflich als Pharmalobbyist, die Verbindung von Politik und Geschäft hat ihn nie wirklich gestört. 2017 kaufte er von dem Pharmamanager Markus Leyck Dieken eine Wohnung in Berlin-Schöneberg für 980.000 Euro, zwei Jahre später, am 1. Juli 2019, wurde ebendieser Geschäftspartner von Spahn zum neuen Geschäftsführer der mehrheitlich bundeseigenen Firma Gematik bestellt, bei fast verdoppeltem Gehalt inklusive üppiger Altersvorsorge und dickem Dienstwagenzuschuss. Dass sich Spahn noch eine weitere teure Wohnung in Schöneberg (Mieter: FDP-Chef Christian Lindner) und eine luxuriöse Villa in Berlin-Dahlem für mehrere Millionen Euro leisten konnte, hat er der großzügigen Kreditvergabe der Sparkasse in seinem Heimatwahlkreis zu verdanken, bei der er bis 2015 im Verwaltungsrat saß.
Jede Bank würde Jens Spahn bedenkenlos einen Millionenkredit gewähren, denn er ist ein Eins-a-Schuldner, einen besseren kann man sich kaum wünschen. Man wird ihn förmlich zuscheißen mit Geld. Am 20. Oktober, mitten in der Corona-Krise, als er am Morgen im Frühstücksfernsehen die Bevölkerung ermahnte, private Kontakte zu reduzieren, nahm er abends an einem Spenden-Dinner in Leipzig teil. Ein Dutzend Unternehmer waren geladen, sie sollten jeweils 9.999 Euro für Spahns Bundestagswahlkampf an seinen CDU-Kreisverband in Borken überweisen. Dort, im Westmünsterland, ist Spahn CDU-Kreisvorsitzender. Die Unternehmer spendeten gern. Bescheiden, wie sie waren, bestanden sie nicht einmal darauf, im Rechenschaftsbericht der Partei erwähnt zu werden, denn Spenden werden erst ab 10.000 Euro namentlich vermerkt. Ob die zwölf Unternehmer aus purer Liebe zur CDU gespendet haben oder aus anderen Gründen, wird sich zeigen. Eines ist jetzt schon sicher: Die Corona-Krise hat Spahn zum gefragten Mann gemacht, und sein Parteifreund, Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier, hat mit seinem Rundschreiben dazu beigetragen, dass er zu einem der freigiebigsten Staats-Unternehmer in Merkels Kabinett aufsteigen konnte.
Altmaier hat auch umsichtig für Absicherung gesorgt, indem er das in Krisen so bitter nötige Wettbewerbsregister liebevoll verschlampte. Zwar hat der Bundestag im Juli 2017 ein Register beschlossen, in dem alle schwarzen Schafe gelistet werden sollen, die bei Staatsaufträgen betrogen, minderwertige Ware geliefert oder Wucherpreise verlangt haben, aber irgendwie hat es das Bundeskartellamt als zuständige Behörde bis heute nicht geschafft, die dafür erforderliche Datenbank aufzusetzen. „Das Wettbewerbsregister“, heißt es auf der Internetseite des Amts, „wird derzeit technisch aufgebaut. Die Melde- und Abfragepflichten sind noch nicht anwendbar.“ Es fehle noch eine Rechtsverordnung. Ein Entwurf befinde sich im „Verordnungsgebungsverfahren“.
Ähnlich langsam ging es beim Lobbyregister voran, das seit zehn Jahren auf der Tagesordnung steht, aber von der Unionsfraktion zielstrebig blockiert worden ist. Ob die technische Umsetzung nun wie beim Wettbewerbsregister laufen wird? Die Vergabe besonders lukrativer Staatsaufträge an gute Bekannte, politische Freunde oder heimische Unternehmer kann wohl so lange ungestört weitergehen, wie die Corona-Notlage anhält. Es sei denn, ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss bringt etwas Licht ins Dunkel.
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