Die Geschichte, die uns derzeit über die bevorstehende Wahl Ursula von der Leyens zur EU-Kommissionspräsidentin erzählt wird, geht so: Zwar sei die Nominierung nicht optimal verlaufen, aber alle hätten sich nun damit abgefunden. Nur die vaterlandslosen Gesellen von der SPD möchten partout eine Deutsche als Kommissionspräsidentin verhindern. Mit ihrem trotzigen Nein riskiere die SPD „eine Verfassungskrise“ und gefährde „die Stabilität Europas“. Geradezu zwanghaft wiederhole die Partei das „destruktive Verhalten“, das sie nach der verlorenen Bundestagswahl an den Tag gelegt habe. Auch damals hieß es wild entschlossen: „Mit uns nicht! Wir gehen in die Opposition.“ Doch wenige Monate später saß man in trauter Runde bei den Koalitionsverhandlungen mit der Union.
Die Genossen sollten deshalb doch bitte einsehen, dass sie sich mit ihrer Anti-Haltung zu Ursula von der Leyen ins eigene Fleisch schneiden. Die spanischen Sozialisten und die italienischen Sozialdemokraten verhielten sich da wesentlich professioneller. Schließlich sei die Personalie von den sieben sozialdemokratischen Regierungschefs im Europäischen Rat bereits abgesegnet.
Diese Litanei wird uns noch bis zur Abstimmung am 16. Juli als Dauerschleife auf vielen Kanälen begleiten. Denn später soll niemand sagen können, von der Leyen habe für ihre Wahl die Stimmen von Nationalisten und Rechtspopulisten benötigt.
Das Pikante an dieser Erzählung ist, dass diejenigen, die den Wählern monatelang die immense Bedeutung der Europawahlen vorgegaukelt und die Entscheidungsmacht der Bürger in höchsten Tönen besungen haben, ihnen nun weiszumachen versuchen, dass das Konzept der europäischen Spitzenkandidaten von Anfang an eine Totgeburt war und niemand – außer einigen europaverrückten Deutschen und Niederländern – etwas mit den Namen Manfred Weber oder Frans Timmermans anfangen könne. So verwandelt sich ein edles Parlament über Nacht wieder in eine „Quatschbude“, die keiner wirklich ernst nehmen muss. Genüsslich wird dazu die Lesart gestreut, die Abgeordneten hätten durch ihre „Zerstrittenheit“ keine eigene Lösung für die heikle Postenvergabe zustande gebracht.
Das Problem solcher Erzählungen ist: Sie stimmen hinten und vorne nicht. Sie lenken nur ab von der wahren Geschichte, die zur Nominierung Ursula von der Leyens geführt hat. Diese Geschichte beginnt am 7. Februar 2018 – und ihr Verlauf zeigt sehr klar, wie sich die Christdemokraten zunächst selbst ein Bein stellten, dann Verrat an den eigenen Prinzipien übten und sich am Ende willig vor den Karren der Nationalisten spannen ließen. Aber der Reihe nach.
Am 7. Februar 2018 beschloss das Europäische Parlament mit Zwei-Drittel-Mehrheit, dass der künftige Kommissionspräsident aus dem Kreis der Spitzenkandidaten kommen müsse, „damit die europäischen Bürger bei der Wahl zum Europäischen Parlament entscheiden können, wer zum Präsidenten der Kommission gewählt werden soll“. Ferner enthielt der Beschluss eine deutliche Warnung an den Europäischen Rat der Regierungschefs: Man sei „bereit, jeden Kandidaten abzulehnen, der im Vorfeld der Wahl zum Europäischen Parlament nicht als Spitzenkandidat benannt wurde“. Auch die Christdemokraten der Europäischen Volkspartei (EVP) stimmten dem zu.
Gleichzeitig – und das war der erste Sündenfall – weigerte sich die EVP völlig überraschend, sogenannte transnationale Listen für einige der nach dem Brexit frei werdenden britischen Abgeordnetensitze zuzulassen. Der im Verfassungsausschuss des Parlaments gemeinsam mit Liberalen, Grünen und Sozialdemokraten ausgearbeitete Antrag scheiterte. Guy Verhofstadt, damals Fraktionsvorsitzender der europäischen Liberalen, reagierte wütend und enttäuscht auf das Nein der Christdemokraten: „Mit der Ablehnung der transnationalen Listen haben sie auch dem Spitzenkandidatensystem den Todesstoß gegeben. Ganz klar: Sie waren diejenigen, die dieses System getötet haben.“ Denn nur mit transnationalen Listen hätten die Spitzenkandidaten in allen 28 Ländern auf den Wahlzetteln gestanden. Zugespitzt könnte man sagen: Manfred Weber wurde von seinen Parteifreunden erledigt, noch bevor sie ihn im November 2018 auf den Schild gehoben hatten.
Tolerierte Übergriffigkeit
Am 28. Mai 2019, zwei Tage nach der Europawahl, bekräftigte die „Simbabwe-Gruppe“ der Fraktionsvorsitzenden im Europaparlament (EVP, Sozialdemokraten, Grüne und Liberale), dass jede Anwärterin und jeder Anwärter auf das Amt des Kommissionspräsidenten zuvor „eine EU-weite Wahl-Kampagne“ geführt haben müsse, in der das „Programm und die Persönlichkeit bekannt gemacht“ wurden. Während sich die Liberalen – unter dem Einfluss Emmanuel Macrons – bereits ein Stück weit distanzierten, bekannten sich die Christdemokraten unter Weber noch unverdrossen zum Spitzenkandidaten-Modell. Doch in den Wochen danach kündigte die EVP die informelle Große Koalition mit den Sozialdemokraten heimlich, still und leise auf, sodass Grüne, Linke und Sozialdemokraten mit der Ablehnung jeder Regierungseinmischung plötzlich allein dastanden. Das war der zweite Sündenfall der Union.
Als Donald Tusk dann die Personalie Ursula von der Leyen am Abend des 2. Juli 2019 verkündete, gab es aus der EVP keinerlei Proteste gegen die Übergriffigkeit des Europäischen Rats und den offenen Bruch des Wahlversprechens. Auch die Aufkündigung der informellen GroKo mit den Sozialdemokraten wurde nicht thematisiert. Man verteidigte sich mit dem Argument, das EU-Parlament sei nicht in der Lage gewesen, eine fraktionsübergreifende Lösung zu finden. Doch wann hätte eine solche erarbeitet werden sollen? Das neue Parlament trat am 2. Juli, wenige Stunden vor Bekanntgabe des Personalvorschlags, erstmals zusammen. Unter den 751 Abgeordneten, die 190 nationale und regionale Parteien vertreten, befinden sich 420 Neulinge. Die mussten sich erst mal orientieren. Das Parlament hätte nach dem 2. Juli ausreichend Zeit für Verhandlungen gehabt, denn Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker amtiert noch bis Ende Oktober. Bis dahin hätte man sich auf Weber oder Timmermans (oder die Liberale Margrethe Vestager) einigen können. Der Grund, warum der Europäische Rat das Parlament überrumpelte, war offensichtlich. Die Spitzenkandidaten waren vielen ein Dorn im Auge. Die Interessen der Osteuropäer auf eine ungestörte nationale Innenpolitik spielten dabei eine unrühmliche Rolle. Das war der dritte Sündenfall der Union.
Denn am 1. Juli hatte sich Emmanuel Macron am Rande des EU-Gipfels mit den Regierungschefs der vier osteuropäischen Visegrád-Staaten Ungarn, Polen, Tschechien und Slowakei getroffen. Bereits bei einem Vortreffen der Visegrád-Gruppe Mitte Juni in Budapest hatte Ungarns Staatschef Viktor Orbán die Gruppe auf die Parole eingeschworen, es gelte die Kandidaten Weber und Timmermans um jeden Preis zu verhindern. Sie seien Feinde Zentraleuropas und der osteuropäischen Auffassung von Demokratie. In Orbáns Umgebung wird Timmermans als „Marionette von George Soros“ verunglimpft.
Die „Liquidierung“ von Timmermans und Weber im Europäischen Rat meldete als Erstes Zoltán Kovács, Staatssekretär und Pressesprecher Viktor Orbáns. Am 2. Juli um 15.41 Uhr twitterte er: „Nachdem wir Weber besiegt und Timmermans abserviert hatten, haben wir ein Personalpaket auf den EU-Tisch gelegt, das sich wachsender Zustimmung unter den Mitgliedsstaaten erfreut: Die vier Visegrád-Staaten unterstützen Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen als nächste Kommissionspräsidentin.“ Als kurz darauf der BBC-Reporter Gavin Lee den „Knock-out“ der Spitzenkandidaten durch die Visegrád-Staaten verkündete, antwortete ihm der ungarische Regierungs-Account „AboutHungary“ stolz: „Und wir haben Ursula von der Leyen als Kommissionspräsidentin nominiert.“ Orbán feiert seinen Husarenstreich bereits als Beginn einer neuen europäischen Ära.
Wichtigtuerei
Natürlich kann man das als Wichtigtuerei abtun, aber es zeigt doch, auf wen sich Ursula von der Leyens Präsidentschaft stützen wird. Selbst der zurückhaltende Manfred Weber sprach entsetzt von einer „Achse Macron–Orbán“ und fügte frustriert hinzu: „Das ist nicht das Europa, das ich mir vorstelle.“
Mit diesem Makel wird die Kommissionspräsidentin von der Leyen nun konfrontiert werden müssen. Es sei denn, Sozialdemokraten und Grüne helfen ihr noch aus der Klemme.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.