Könnte die Sternschanze, jener Hamburger Stadtteil, in dem 2017 die G20-Krawalle stattfanden, eine Vorahnung der Zukunft vermitteln? Dort wählten am 26. Mai bei den parallel zur Europawahl stattfindenden Kommunalwahlen 46,5 Prozent die Grünen und 29 Prozent die Linken. Zusammen ergäbe das eine stabile rot-grüne Dreiviertelmehrheit für radikale sozialökologische Reformen. CDU und SPD erreichten dagegen nur 17,1 Prozent, die AfD machte mit 1,2 Prozent keinen Stich.
Oder zeigt sich die Zukunft eher in Großschirma? In dieser sächsischen Kleinstadt am Rande des Erzgebirges erreichte die AfD am 26. Mai stolze 32,7 Prozent. Weitere 43 Prozent verteilten sich auf drei unabhängige Bürgerlisten. Die CDU holte 9,2 Prozent, das Bündnis aus SPD und Grünen erzielte zwölf Prozent. Die AfD könnte hier, mit der Unterstützung lokaler „Heimatparteien“, eine rechtspopulistische Politik nach Art der polnischen PiS-Partei durchsetzen.
Sternschanze und Großschirma mögen Extrembeispiele sein, doch oft lassen sich dauerhafte Wählertrends schon früh an solchen Beispielen ablesen. Die Marktforschungsinstitute Sinus und Infratest prognostizierten bereits Mitte der 1980er Jahre anhand auffälliger Wahlergebnisse in bestimmten Großstadtmilieus, dass die Volksparteien CDU und SPD ohne innerparteiliche Reformen in 30 Jahren dort ankommen würden, wo sie heute tatsächlich stehen: am Übergang von der breiten Volks- zur schmalen Klientelpartei. Und genau wie beim Thema Klima, das die Volksparteien 30 Jahre lang zu wenig ernst genommen haben, rächt sich nun ihre fortgesetzte Tatenlosigkeit in Sachen Partei-Erneuerung. Die Preisfrage lautet daher: Können Union und SPD ihre Selbstverzwergung noch stoppen oder bleibt ihnen bestenfalls der geordnete Rückzug aus der ersten Reihe der Politik?
Die Wahlen vom 26. Mai 2019 waren außergewöhnlich. Viele Wähler protestierten mit ihrer Stimme für die Grünen gegen die Untätigkeit der regierenden GroKo. Bei genauerem Hinsehen offenbarte sich aber noch etwas anderes: ein unernstes, ja spielerisches Verhältnis zur Politik, das man vorschnell als Wohlstandsverhalten abtun könnte. Vor allem junge Wähler schwankten zwischen totaler Ernsthaftigkeit („Wir müssen die Welt retten“) und einer satirischen (Mittelfinger-)Abwehr jedweder Politik. Dieser Doppelcharakter war bei den Erstwählern besonders ausgeprägt. 36 Prozent von ihnen wählten die Grünen. Die Union kam nur auf schlappe 11 Prozent, die SPD auf dürre 7 Prozent. Die Satire-„Partei“ Martin Sonneborns überflügelte SPD, Linke, FDP und AfD und wurde mit 9 Prozent zur drittstärksten Partei in dieser Altersgruppe. Etwa drei Dutzend politisch bedeutungslose und weitgehend unbekannte Kleinstparteien zogen weitere 16 Prozent der Erstwähler auf sich. Insgesamt verweigerten 25 Prozent die Wahl einer politisch wirksamen Alternative. Und zwar im Osten häufiger als im Westen.
Randale auf dem Stimmzettel
Verdankten die Grünen ihren durchschlagenden Erfolg der verzweifelten Hoffnung, diese Partei werde die verschleppten Reformen mit dem nötigen „radikalen Realismus“ angehen und den Klimakollaps in letzter Minute verhindern, so beruht der Erfolg der Mini-Parteien, die den Wahlvorgang veralberten oder wenig brauchbare Vorschläge machten, auf Wählern, die alle Hoffnung fahren ließen und mit dem Stimmzettel ein wenig randalierten. Nach der nächsten Bundestagswahl, wenn die Mühen der schwarz-grünen (Regierungs-)Ebene die ersten Enttäuschungsreaktionen auslösen, könnten sich beide Gefühlsströmungen – Verzweiflung und Verachtung – zu einer brisanten Mischung verbinden. In der Klimaforschung würde man dies wohl als „Kippmoment“ bezeichnen, als jenes Moment, das ein scheinbar stabiles System plötzlich umkippen lässt, nach links oder nach rechts. In Frankreich und Italien ist das alte Parteiensystem bereits kollabiert, in Großbritannien steht die Selbstdemontage bevor, Deutschland könnte bald folgen. Damit das Kippmoment nicht eintritt, überlegen sich die alten Volksparteien derzeit Strategien, die sie aus ihrer misslichen Lage befreien sollen. Die Frage ist nur: Dienen solche Strategien dem angestrebten Zweck?
Personalisierte Angebote sind Teil der Überlegungen. Sowohl Union als auch SPD haben erkannt, dass es nicht mehr funktioniert, als „überparteiliche“ Organisation der Allgemeinheit aufzutreten. In einer ausdifferenzierten „Gesellschaft der Singularitäten“ (Andreas Reckwitz) wirkt es darüber hinaus abschreckend, wenn allen Interessierten das Gleiche geboten wird. Deshalb ist es in postmodernen Gesellschaften üblich, den Bürgern „personalisierte“ Angebote zu machen. Suchmaschinen wie Google oder Social-Media-Plattformen richten ihren Nutzern personalisierte Öffentlichkeiten ein, die bewirken, dass wir bevorzugt mit Personen und Angeboten „kommunizieren“, die zu unseren Auffassungen und Vorlieben passen.
Seit Barack Obamas Präsidentschaftswahlkampf 2008 werden alle größeren Wahlkämpfe mit solchen „personalisierten“ Werbebotschaften bestritten. Auch Autos und Reisen können wir nach eigenen Wünschen „konfigurieren“, Medikamente lassen sich patientengenau „maßschneidern“. Warum also sollte es keine maßgeschneiderten Parteien geben? Eine Diana-Kinnert-CDU für die Jungen, eine Philipp-Amthor-CDU für die Alten, eine Hardcore-CDU für Hans-Georg Maaßen und eine krass geile CDU für die Youtuber. Seit der Pleite der CDU mit dem Rezo-Video wird in den PR-Abteilungen der Parteien in diese Richtung gedacht. Aber sind die Probleme einer Volkspartei dadurch zu lösen, dass sie die Zersplitterung der Gesellschaft lediglich dupliziert? Volksparteien wollen ja das Gegenteil erreichen, davon zeugt schon die häufig gebrauchte Phrase vom „gesellschaftlichen Zusammenhalt“. Wie also bringt man die Individualisierung der Gesellschaft und die Konservierung des Volkspartei-Charakters auf einen Nenner? Ist das überhaupt noch möglich? Eine Notlösung wären Parteien-Bündnisse, wie sie bei der Europawahl in vielen Ländern auf den Stimmzetteln standen. Doch ein Erfolg ist keineswegs garantiert. So erzielte das vom französischen PS initiierte ökologisch-sozialistische Vier-Parteien-Bündnis nur 6,2 Prozent, das spanische Vier-Parteien-Bündnis unter Führung der Linkspartei Podemos erreichte enttäuschende zehn Prozent.
Auch die Beschränkung der politischen Inhalte wird ins Spiel gebracht. Geschockt vom Wahlergebnis – im Ruhrgebiet gab es Verluste von bis zu 20 Prozentpunkten –, denkt die SPD inzwischen über eine Reduzierung ihres inhaltlichen Angebots nach. „In unserem Wahlprogramm äußern wir uns wirklich zu jedem Problem auf dieser Welt. Und das ist unser Problem in der Außendarstellung“, befindet der niedersächsische SPD-Vorsitzende Stephan Weil. Und folgert: „Wir müssen weg vom Gemischtwarenladen, in dem es irgendwie alles für alle gibt.“ Wäre es da nicht konsequent, sich freiwillig vom Volksparteikonzept zu verabschieden und das zu tun, was man früher gern anderen Parteien vorwarf? Dass man sich etwa – wie die Grünen und die AfD – als „Ein-Themen-Partei“ profiliert? In einer Mediengesellschaft, in der sich alle für kurze Zeit auf das gleiche Thema stürzen, scheint ein solches Konzept den Erfolg zu garantieren. Und tatsächlich zählt es zur Strategie taumelnder Firmen, sich bei Gefahr im Verzug auf das „Kerngeschäft“ zu besinnen: back to the roots. Allerdings beweist die Linkspartei, dass diese Strategie auch fehlschlagen kann. Trotz ihrer thematischen Beständigkeit zählte sie bei den Wahlen zu den großen Verlierern.
Konsequente Europäisierung ist eine Strategie, über die nachgedacht wird. Zur Europawahl gab es Stimmen, die eine mutige Abkehr von der nationalen Politik und eine echte Hinwendung zur Europäisierung der Parteien forderten. Wäre es nicht vorausschauend, nationale Politik nur noch als europäische Innenpolitik zu begreifen und sich entsprechend zu positionieren, von gemeinsamen Steuersätzen und Mindestlöhnen bis hin zu gemeinsamen Eurobonds? Doch halt! Welches Ergebnis erzielte die transnationale Partei DiEM25 des griechischen Ex-Finanzministers Yanis Varoufakis? 0,3 Prozent. Die „konsequente Europäisierung“ wird wohl noch eine Weile den Sonntagsrednern und Idealisten vorbehalten bleiben. Eine Avantgardepartei muss dem allgemeinen Bewusstsein vorauseilen, eine Volkspartei darf es auf keinen Fall.
Alles hat seine Zeit
Demokratische Polarisierung gehört ebenfalls zum Strategie-Tableau. Jürgen Habermas forderte 2016 von Union und SPD, die politische Polarisierung müsse sich wieder „zwischen den etablierten Parteien um sachliche Gegensätze kristallisieren“. Nur so könnten die Populisten kleingehalten werden. CDU und SPD haben dies, zumindest verbal, beherzigt: Die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer schärfte das Profil ihrer Partei mit ausgesucht konservativen Ansichten, der Juso-Chef Kevin Kühnert erregte viel Anstoß mit Sozialismus-Ideen. Beiden Parteien nützte die Polarisierung nichts. Die Grünen besetzten die frei werdende Mitte und gewannen je eine Million Stimmen aus den Reservoiren von SPD und CDU. Die „demokratische Polarisierung“ fand nicht zwischen Union und SPD statt, sondern zwischen AfD und Grünen. Dieser Polarisierung gehört die Zukunft.
Radikal auf Zukunftsthemen setzen ist ein Konzept, das im Zuge der Europawahl besonders oft genannt wird. Wer die Jugend zurückgewinnen will, muss ihr Kernthema beackern: die Zukunft. Das bedeutet: nicht immer nur auf Sicht fahren, nicht ausschließlich über Pflege und Rente reden. Sondern die Frage beantworten, wie unsere Gesellschaft, unsere Umwelt, unser Europa in 30 Jahren aussehen sollen. Und dann festlegen, was zu tun ist. Dafür müssten Institutionen reformiert und Mitbestimmungs- und Wahlverfahren erweitert werden. Gerade in den Parteien. Die britische Labour Party hat vorgemacht, wie man Hunderttausende neuer Mitglieder durch radikale Öffnung der Strukturen gewinnt. Aber haben Union und SPD den Mut dazu? Der Altersdurchschnitt ihrer Mitglieder liegt bei 60 Jahren. Ihr stabilstes Wählersegment sind die Omas und Opas über 70. Die alten Volksparteien sind heute zu Rentnerparteien geworden. Doch Witze darüber zu reißen ist wohlfeil. Schließlich ist der Anteil der Wahlberechtigten über 60 auch zehn Mal so groß wie der bei den unter 21-Jährigen. Nur 15 Prozent der Wahlberechtigten sind heute jünger als 30. Die 1979 gegründeten Grünen haben den Vorteil, dass ihre Anhänger von Wahl zu Wahl stärker in die Gesamtgesellschaft hineinwachsen, während die Wähler der Altparteien reihenweise aus ihr heraussterben.
Wir sehen: Alle gut gemeinten Konzepte gegen die Verzwergung der Volksparteien haben einen Haken. Vielleicht gibt es einfach keine Rettung. Man sollte darüber nicht allzu bestürzt sein. Denn alles hat seine Zeit. SPD und Union waren der angemessene Ausdruck der westdeutschen Republik und des Rheinischen Kapitalismus. Nun folgt die nächste Phase. Sie ist überfällig, denn die beiden Altparteien hinken dem Gesellschafts- und Strukturwandel um Jahrzehnte hinterher. Ihre Aufhebung in den Grünen – nicht in der AfD! – wäre ein positives Zeichen. Denn „Aufhebung“ bedeutet zweierlei: Ein Zustand wird überwunden und auf eine höhere Entwicklungsstufe gehoben, zugleich wird etwas aufbewahrt und konserviert. Das, was an den Altparteien bewahrenswert ist, wird in neue Parteien überführt. Es ist dort aufgehoben und nicht einfach verschwunden.
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