Stur für die Entspannung

Porträt Rolf Mützenich kämpft seit jeher für Frieden und den Abzug der US-Atomwaffen – auch als SPD-Fraktionschef
Ausgabe 20/2020
Der linke Mützenich hat den notorischen Strippenzieher der rechten Seeheimer, Johannes Kahrs, mal eben im Vorbeigehen in die Resignation getrieben
Der linke Mützenich hat den notorischen Strippenzieher der rechten Seeheimer, Johannes Kahrs, mal eben im Vorbeigehen in die Resignation getrieben

Foto: Thomas Koehler/Photothek/Imago Images

Seinen Aufstieg verdankt Rolf Mützenich zwei hausgemachten Krisen der SPD. Im Frühjahr 2002 versanken die Kölner Genossen in einem Parteispendenskandal und mussten wenige Monate vor der Bundestagswahl ihren Kandidaten für den Kölner Norden austauschen. Mützenich sprang als „Ersatzmann“ ein und gewann. Im Juni 2019 mobbten unzufriedene Genossen die Partei- und Fraktionsvorsitzende Andrea Nahles aus ihren Ämtern – und wieder musste Mützenich einspringen. In beiden Fällen half ihm das Image des ruhigen und bescheidenen Kärrners. Er erschien als einer, der „kein Machtpolitiker“ ist; das hieß, er war ungefährlich, zu Deutsch: harmlos.

Bis vor zwei Wochen. Da machte der „bescheidene“ Rolf Mützenich, 60, mit einem Doppelschlag deutlich, dass mit ihm zu rechnen ist, ja dass er eine „linke Agenda“ verfolgt, stur wie Jeremy Corbyn, unbeirrbar wie Bernie Sanders. Mit beiden hat er Ausdauer und Geradlinigkeit gemein, nicht aber die Radikalität. Mützenich löst keine Euphorien aus, er taugt nicht zum Popstar einer Protestbewegung. Auch darin ist er ein sehr deutscher Sozialdemokrat. Man vertraut ihm, weil er zuverlässig und gewissenhaft ist. Immer. Seit Jahrzehnten wirbt er für Abrüstung. Wozu logischerweise der Abzug der Atomwaffen aus Deutschland zählt. Er will auch keine Wehrbeauftragten, denen es nur darauf ankommt, den Generälen nicht allzu sehr auf den Wecker zu fallen. Er will, dass die Bundeswehr parlamentarisch kontrolliert wird. Niemand kann ihn davon abbringen, auch nicht die FAZ, die jetzt scheinheilig fragt: „Zerlegt Rolf Mützenich gerade seine Partei?“

Er erinnert sie vielmehr an ihre Grundlagen. Die SPD, in der Corona-Krise von der Union erneut an den Rand gedrückt, hat angesichts populistischer Scharfmacher und „Säbelrassler“ eine Tradition zu verteidigen: die Entspannungspolitik. Wer Mützenichs „Vorstoß“ für unzeitgemäß hält, sollte erst mal zur Kenntnis nehmen, was ihn geprägt hat.

Aufgewachsen ist er in Köln-Kalk, auf der „schäl Sick“, der „falschen Seite“ des Rheins. Der Vater war Maschinenschlosser, die Mutter Hausfrau. Als Kind ging er zu den Falken, der „Sozialistischen Jugend Deutschlands“. Mit 16 trat er in die SPD ein. Das war 1975, als bei den Jusos erbitterte Richtungskämpfe tobten. Auf der einen Seite die braven Reformsozialisten, auf der anderen die bösen Stamokap-Anhänger. In Köln dominierten Letztere. Als ihre Galionsfigur, der Bundesvorsitzende Klaus-Uwe Benneter, aus der Partei geworfen wurde, verschärften sich auch in Köln die Auseinandersetzungen. Immer wieder ging es um (verbotene) Aktionsbündnisse, um Chile-Solidarität, Berufsverbote, Neutronenbombe und atomwaffenfreie Zonen. Mit dem Nato-Doppelbeschluss vom Dezember 1979 erfasste der Streit über die Nachrüstung schließlich die Gesamtpartei. Mützenich, der auf dem zweiten Bildungsweg das Abitur geschafft hatte, begann Politik, Geschichte und Wirtschaftswissenschaften zu studieren. Er brauchte dafür elf Jahre, und das lag vor allem daran, dass er nebenbei für Kölner Landtags- und Bundestagsabgeordnete Wahlkämpfe organisierte und ihre Büroarbeit erledigte. Zum Beispiel für Konrad Gilges.

Gilges war sein unmittelbarer Vorgänger im Wahlkreis „Chorweiler, Nippes, Ehrenfeld“. Und gewissermaßen ein Vorbild: gelernter Fliesenleger, erklärter Pazifist, Bundesvorsitzender der Falken, DGB-Kreisvorsitzender, ein „Urgestein“ der Kölner SPD. Im Bundestag war er derjenige, der Militäreinsätze, Rüstungsexporte und Waffenkäufe rigoros ablehnte. Das war Ehrensache. Seinen Wahlkreis gewann er trotzdem (oder deshalb) immer direkt. Vier Jahre lang tobte die Schlacht um die Nachrüstung. Sie mündete im November 1983 auf dem Bundesparteitag in Köln in eine Totalabrechnung mit Helmut Schmidt. Waren 1979 noch 90 Prozent der Delegierten auf Schmidts Seite gewesen, so stimmten 1983 96 Prozent gegen ihn.

In dieser friedenspolitisch aufgeladenen Atmosphäre hatten sich Mützenichs Überzeugungen gebildet, und so schrieb er seine Doktorarbeit 1991 konsequenterweise über „atomwaffenfreie Zonen und internationale Politik“. Im Bundestag agierte er als Sprecher der „Arbeitsgruppe Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung“, und an der Kölner Uni lehrte er – wie könnte es anders sein – „Abrüstung und Rüstungskontrolle im 21. Jahrhundert“. Nach Willy Brandt und Egon Bahr gibt es wohl keinen SPD-Abgeordneten, der sich so gut auskennt in internationalen Verhandlungsfragen wie Mützenich. Sein Ex-Chef Peter Struck rief bei komplexen Sachverhalten immer: „Mütze, erklär’ uns das mal!“

Außenminister Heiko Maas wird Mützes Sachkenntnis sicher zu spüren bekommen. Wichtige Journalisten werden das als Konkurrenzgerangel interpretieren. Aber so ist Mütze nicht gestrickt. Als Arbeiterkind weiß er, was er seiner Partei verdankt. Und was er ihr schuldet: Loyalität. Den kölschen „SPD-Klüngel“ aus mittelrheinischer SPD, städtischen Betrieben, Gewerkschaften, Arbeiterwohlfahrt, Stiftungen, Vereinen und Förderkreisen würde er nie antasten. Für Versorgungsfälle hat er Verständnis, das ist Teil der Solidarität. Lukrative Pöstchen und Nebenerwerbstätigkeiten für sich hat er jedoch immer abgelehnt.

Seine Feindbilder liegen außerhalb der Partei. US-Präsident Trump nennt er einen „Rassisten“, „Schutzgeldeintreiber“, „Lügner und Steuerbetrüger“. Auch für Erdoğan hat er wenig übrig. Mützenichs Schärfe resultiert ganz aus der Sache. Und die heißt: Frieden durch Abrüstung. Dass er als Linker den rechten Seeheimer Kreis mal eben im Vorbeigehen „enthauptete“ und den notorischen Strippenzieher Johannes Kahrs in die Resignation trieb, war sicher keine Absicht. Es war nur die logische Folge.

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Wolfgang Michal

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