Menschheitsdämmerung 3 - Religion der ewigen Wiederkehr - Teil 2

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Fortsetzung von: Über die Weltsicht der Ägypter (ab 3.000 v.u.Z.)

8. Strukturmerkmal: Die Erschaffung der Menschen

Geben und Nehmen als Modus der Beziehung zwischen Göttern und Menschen:

Die Götter erschaffen die Menschen um der Menschen selbst willen, nicht als Sklaven oder Diener der Götter. Denn sie brauchen die Menschen im Abwehrkampf gegen die Chaos-Mächte. Deshalb sind die Götter den Menschen wohlgesonnen. Die Menschen aber lieben die Götter und helfen ihnen, weil sie um ihrer selbst willen geschaffen wurden.

Die Beziehungen zwischen Göttern und Menschen beruhen auf einem Tauschakt: Der Mensch nimmt die Sorge der Götter um das Gelingen des Lebens und gibt den Göttern Unterstützung im Kampf gegen die Chaosungeheuer. Diese Hilfestellung geschieht dadurch, dass man „in der MAAT lebt“ und dadurch, dass man die Götter durch Opfer und Rituale nährt. Dieser Tauschakt wird durch den Pharao vermittelt und behütet. Ob er gelingt, zeigt sich im Wohlergehen, im Wohlstand, im Glück, in der Gesundheit. Das Leben in der MAAT zeigt sich und wird belohnt durch Ordnung, Gerechtigkeit, Gedeihen, Fruchtbarkeit und regelmäßige Nil-Überschwemmungen.

RE als Beobachter und Richter - Die tägliche Fahrt in der Barke

Der Sonnengott RE umkreist in der Barke einmal pro Tag Himmel, Welt und Unterwelt. Dabei begleitet ihn seine Tochter MAAT als Lotsin. Die Fahrt durch die Unterwelt ist riskant. Dort lauert nämlich APOPHIS. Der Abwehrkampf geschieht mit Hilfe der Götter. Beim Auftauchen in die Welt wechselt RE die Barke, und alles beginnt von Neuem

Bei dieser Barken-Fahrt beobachtet RE das Tun der Menschen und richtet sie, und zwar gerecht und unbestechlich. Auch schützt RE vor allem die Witwen, Waisen und Arme vor Willkür.

Die obersten Götter, vor allem RE und MAAT, sind unsterblich. Aber viele der mittleren und kleineren Götter sind sterblich und keineswegs allwissend oder allmächtig.

Der Hauptunterschied zu den Göttern besteht darin, dass die Menschen die Erde und die Götter den Himmel bewohnen. Die Wohnorte von Göttern und Mensch sind getrennt. Sie bewohnen den selben Kosmos, aber die einen wohnen oben und die anderen unten. Gleichwohl sind die Götter stets um die Menschen herum und schützen sie und ihre Werke. Aber sie wohnen nicht bei ihnen.

Ausnahme: RE und MAAT wohnen auf der Erde im Allerheiligsten des Tempels. Aber auch dort sind sie abgetrennt von den Menschen. Nur der Halbgott PHARAO darf sie als Mittler aufsuchen.

Martin berichtet, dass der Ägyptologe und Religionswissenschaftler Jan Assmann sinngemäß schreibt (s.u. ca. S.58), dass es auch in Ägypten zu einer Dissoziation von Göttern u. Menschen gekommen sei, nachdem beide ursprünglich die Welt gemeinsam bewohnt hätten. Die Ursache sei eine Auflehnung der Menschen gegen die Götter gewesen und beinahe hätten die Götter daraufhin die Menschen wieder mit Stumpf und Stiel vom Angesicht der Erde getilgt. Jedenfalls hätten sich die Götter daraufhin zornig in eine Sphäre außerhalb der menschlichen Welt zurückgezogen. […] Außerdem impliziere die Dissoziation von Göttern u. Menschen m.E. ganz klar eine apokalyptische Einbruchsstelle, da die menschlich-göttliche Spannung ja nach einer Aufhebung bzw. Versöhnung, also nach einem apokalyptischen Szenario, verlangt. Darüber habe er aber bei Assmann nichts gefunden.

Diese Mythologie diente der Rechtfertigung der haltgebenden Institutionen des ägyptischen Staates mit dem Pharao an der Spitze, der die aufmüpfigen Menschen zu einem den Göttern gefälligen Leben anhalten soll.(ganz Carl Schmitt)

Fundstelle: Politische Theologie zwischen Ägypten und Israel / Jan Assmann. - 3., erw. Aufl.. - München : Carl-Friedrich-von-Siemens-Stiftung, 2006 (2006). - 137 S


9. Strukturmerkmal: Der ewige Kampf zwischen Ordnungs- und Chaos-Mächten (als Einfallstor der Apokalypse)

Die Ordnungsmächte regieren den Kosmos (dessen Entwurf wiederum die Ängste der Privilegierten repräsentiert):

Der allumfassende NUN erstreckt sich auch über den gesamten Kosmos. Und dieser Kosmos besteht aus:

(1) Oberwelt = Himmel

(2) Erde = Welt / Staat / Gesellschaft = Natur

(3) Nacht und Unterwelt

Alle drei Teile gehören zusammen, und keiner ist abtrennbar. Der NUN ist das Allumfassende. Aber auch der Kosmos besteht aus ineinander-integrierten Teilen, die ihrerseits in den NUN integriert sind.

Die Oberwelt besteht für sich, aber immer schon verbunden mit der Erde und der Unterwelt. Die Erde besteht aus Staat, Gesellschaft und Volk, aber immer schon verbunden mit der Natur. Der altägyptische Mensch hätte niemals die Gesellschaft als von der Natur abgetrennt denken können. Im alten Ägypten wäre eine Ökologie-Debatte absurd. Mitwelt und Umwelt fließen ineinander, sind für sich immer nur im Miteinander des großen Ganzen – als ewige Kontinuität der Verbindung der Teile.

In der Ordnung des Kosmos wirken Götter und Menschen gegen die Chaosmächte zusammen:

Im Himmel wirkt RE/MAAT und die Götter; ihr Wohnort auf Erden ist der Tempel.

Zwischen Himmel und Erde wirkt der Pharao; sein Wirk-Ort ist der Tempel und Palast. Das Volk hilft der MAAT und den Göttern; sein Wirk-Ort ist die Gesellschaft und Natur

Die ägyptische Weltsicht ist ethnozentrisch, d.h.: die eigene Gesellschaft wird als der Mittelpunkt der geordneten Welt betrachtet.

Die Gesellschaften um Ägypten herum werden als Meer von Unordnung und Barbarei wahrgenommen. Dort regiert ISFET mittels der Streitkräfte der fremden Völker. Mitten in diesem „Meer der Unordnung“ erhebt sich Ägypten als die Insel der Ordnung mit dem König an der Spitze.

Der Kampf zwischen Ordnung und Chaos

Die Chaosmächte zeigen sich als Chaosungeheuer. Oberstes Ungeheuer, zugleich unsterblicher Gott, der immer war und immer sein wird, ist die drachenartige Riesenschlange APOPHIS, ein böser Gott, der -wie das Chaos auch- von jeher da war und unsterblich ist: „APOPHIS war eine Verkörperung des Ur-Chaos. Er hatte keine Sinnesorgane, er konnte weder hören noch sehen, er konnte nur schreien. Und er treibt sein Unwesen nur im Dunkeln“ (42)

In der Welt wirkte neben der MAAT auch das ihr entgegengesetzte Kraft: die ISFET, die alles bezeichnet, was der Richtigkeit der Welt entgegenläuft. Die ISFET ist das Destruktive.

Die Chaosmächte wirkten über in der Welt über zahlreiche Handlanger. Sie verwandelten die Feinde Ägyptens in ihre Werkzeuge und verkörperten sich in deren Streitmächten. Jeder Sieg der Truppen des Pharao über seine äußeren Feinde bestätigte und festigte die Ordnung des Kosmos.

Siegte der Feind, musste er sich zum Pharao erklären. Wenn sich der Sieger zum Pharao erklärt, hat die MAAT gesiegt. Wenn er sich nicht zum Pharao erklärt, hat ISFET über die MAAT gesiegt.

Aber auch im Binnenraum der ägyptischen Gesellschaft wirkten Werkzeuge und Handlanger der ISFET: Fremde, Aufrührer, Unruhestifter, manchmal auch die Armen.

Der Kampf tobte mit äußerster Grausamkeit an den Grenzen von Chaos und Ordnung, zwischen Oberwelt und Unterwelt. Täglich, bei jeder Barkenfahrt, griff APOPHIS die Barke bei ihrer Fahrt durch die finstere Unterwelt an. RE musste Tag für Tag obsiegen. Verlöre er den Kampf, dann bliebe die Sonne stehen und die Ordnung des Kosmos, der Welt und Natur, bräche zusammen.

Durch Opfer und rituelle Handlungen verteidigten die Menschen das Reich der MAAT. Ein niemals endender Kampf, denn nach jedem Sieg über APOPHIS erneuerte sich das Ungeheuer und griff erneut an – Tag für Tag.

Der gigantische Kampf auf kosmischer Ebene (RE/MAAT/Menschen versus Apophis/Isfet) hatte seine Entsprechung im Alltag der einfachen Leute.

Überall lauerte Gefahr, vor allem aber an den Enden eines Kreislaufs, in der Übergangszeit zwischen Tag/Nacht, am Monatsende, am Jahresende.

Aber alle Ereignisse, Tätigkeiten und Lustbarkeiten - Geburt, Jagen, Fischen, Ernten, Landwirtschaft, die Früchte, die Weinherstellung, Öl- und Salbenherstellung, das Weben, Schneidern u.v.m.- wurden durch kleine Götter und Geister beschützt.

Im Horizont des Alltags lauerten schädliche Dämonen und Geister und verursachten Missernten, Misserfolge, Krankheit, Schmerz, Hunger und vor allem den (vorzeitigen) Tod. Und ebenso wie der kosmische Kampf niemals endete, wird auch der alltägliche Kampf ums Überleben bis in alle Ewigkeit dauern.

10. Strukturmerkmal: Die Paradiesvorstellung

Einfallstor der „Sehnsucht nach Erlösung von allen Übeln“

Einfallstor für die Idee, dass es ein ewiges Leben nach dem Tode gibt, war die Figur des Pharao. Im alten Reich (ab 3.000 v.u.Z.) „wusste“ man, dass der Pharao nach seinem Tode zu den Sternen aufstiegen würde oder in den Himmel, wo für ihn in der Barke des RE ein Platz warten würde. Ab der 1. Zwischenzeit (ab 2160 v.u.Z) und noch mehr im mittleren Reich (ab 1991 v.u.Z.) „demokratisierte“ sich die Vorstellung von Unsterblichkeit und glücklichem Leben nach dem Tode: Zuerst erweitert auf den Adel, dann auf det janze Volk. Aber nur diejenigen, die in der MAAT lebten, sollten die ewige Glückseligkeit erlangen können.

Diese unaufhaltsam um sich greifende Erlösungssehnsucht stellte sich das Sterben und Wiederauferstehen wie folgt vor:

Alle Toten steigen in den Chaos-Ozean NUN, der potenziell zerstört oder erneuert.

Dann trennt das Gericht durch einen Richterspruch die seligen und gerechten Toten, die in der MAAT lebten, von den Frevlern, die in der ISFET lebten.

Die Frevler erleiden den zweiten Tod und werden vom Chaos-Ozean NUN verschlungen. Aber auch ein Leben in ewiger Qual, die spätere „Hölle“, wird angedacht.

Die Seligen hingegen verjüngen sich im Chaos-Ozean NUN und steigen auf in die geordnete Welt, verjüngt und unsterblich. Die lebendigen Menschen und die seligen Toten bewohnen nun die selbe Welt.

Cohn beschreibt hier ungenau: Bewohnen die Erlösten nun die Oberwelt (Gesellschaft/Natur) oder die Unterwelt, die selbstredend auch Teil der Welt ist. Vielleicht gab es Variationen.

So wird das ewige Leben auch als ewiger Kreislauf von Abtrennung und Wiederverkörperung der seligen Toten beschrieben: Zuerst steigen die seligen Seelen in den Himmel und begleiten dort als millionenfacher Seelen-Schwarm die Barke des RE in die Unterwelt, wo sie sich immer wieder mit ihren Körpern zu einem gesteigerten Leben vereinigen und danach wieder als Seele aufsteigen ............

Wird das ewige Leben in der Unterwelt verortet, dann bewohnen die Seligen einen Bereich, der „Binsenfeld genannt wird. Dieser Bereich war „ein unbegrenzt fruchtbares Paradies, das sich eines ewigen Frühlings erfreute und regelmäßig Ernten schenkte. Reiche und Arme gleichermaßen erhielten ihr Stück Land, das sie zu bestellen hatten.“ (53) Die Unterwelt erschien als ideales Spiegelbild des Niltals, „[…] frei von Gefahr, Alter und Krankheit. Und Bier und Brot, kühles Wasser, frische Brisen, gute Kleidung standen allen selbstverständlich zur Verfügung.“ (53)

Das Paradies winkte keineswegs allen! - nur denen, die gemäß der MAAT gelebt haben, d.h.: die regelmäßig geopfert, niemanden ausgebeutet, bestohlen, verletzt, getötet, die kein Wasser abgeleitet, die keine Früchte vernichtet, die niemanden um sein Erbe gebracht hatten.

Zur Unterstützung der Toten lagen Unschuldsbeteuerungen, d.h. negative Sündenbekenntnisse in den Gräbern. Man zählte also nicht auf, was der Tote Gutes getan hatte, sondern welches Böse er unterließ – weil „in der Maat leben“ immer schon die Norm war.

Als zweite Voraussetzung mussten die Holzsärge mit Zaubersprüchen bedeckt sein. Nur dann kamen die Toten aus ihren Särgen heraus.

Das Gericht versammelte sich in der „Halle der doppelten MAAT“ (der MAAT von Leben und Tod). Es bestand aus einem obersten Richter (oft der oberste Gott), aus Beisitzern, Anklagevertretern, Verteidiger, Zeugen und Gerichtsschreiber. Um die Qualität der individuellen Lebensführung zu ermitteln, wog man das Herz des zu Richtenden gegen eine Feder auf, die für die MAAT stand.

Die als Frevler Beurteilten werden in den Chaos-Ozean gestürzt, nackt, hungrig, taub und blind. Die Seligen werden zu einem volleren, gesteigerten Leben wiedererwachen. Das ewige Leben in Glückseligkeit belohnt sie dafür, dass sie das Böse in der Welt -verkörpert durch ISFET, CHAOSMÄCHTE, APOPHIS- nicht vermehrt hatten!

Summa: Die Welt zerfällt jetzt in eine unvollkommene Welt, das Reich der lebendigen Menschen, und in die vollkommene Welt des Totenreichs der seligen Toten. Die Botschaft lautet: Die gottgegebene vollkommene Ordnung wird erst im Totenreich voll verwirklicht werden, umfasst aber niemals das Reich der Lebendigen. Das fried- und genußvolle Leben der seligen Toten koexistiert mit der unruhigen Welt der Lebenden, und so wird es immer sein.


Einfallstore der Apokalypse

1. Die Vorstellung von Zeit als endlose Zeit, als ewiger Kampf gegen die Chaosmächte, als ewige Wiederholung eines Auf und Ab von Glück und Unglück, von Gesundheit und Krankheit, von Mangel und Fülle, von Sicherheit und Gefahr. Diese Zeitauffassung kann die Sehnsucht nach Erlösung von allen Übeln nicht erfüllen.

2. Die Abtrennung des Undifferenzierten, Einheitlichen, Unbegrenzten und Kontinuierlichen vom Substanziellen, Vielfältigen, Begrenzten und Diskontunierlichen erzeugt die Sehnsucht nach Wiederkehr einer undifferenzierten, einheitlichen, unbegrenzten Kontinuität.

3. Die Abtrennung des Göttlichen vom Menschlichen erzeugt die Sehnsucht nach Wiederkehr der Vereinigung des Menschlichen mit dem Göttlichen.

4. Die Abtrennung des Sterblichen vom Unsterblichen erzeugt die Sehnsucht nach Wiederkehr der Unsterblichkeit.

Durch die altägyptische Paradiesvorstellung war der Erlösungshorizont der Seligen auf das Leben nach dem Tode beschränkt und veränderte nicht unmittelbar das schlechte wirkliche Leben in der Welt und auf der Erde. Das war der blinde Fleck und die ungestillte Sehnsucht, die dann die apokalyptische Weltsicht stillen konnte!

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ciao, Wolfgang Ratzel - Kontakt: wolfgang.ratzel@t-online.de

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Geschrieben von

Wolfgang Ratzel

Aus einem drängenden Endbewusstsein entsteht der übermäßige Gedanke an einen anderen Anfang.

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