Über Welschs Kritik des anthropischen Denkens

- Welsch-Lektüre - Einladung zum gemeinsamen Nachdenken

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Berlin, Mittwoch, den 1. Juli 2015

(1) Einladung zur Lektüre der achten Vorlesung des Wolfgang Welsch: „Mensch und Welt – Eine evolutionäre Perspektive der Philosophie“

Donnerstag, 2. Juli 2015 von 18:30 bis 20:30 Uhr

Seminargebäude der Humboldt-Uni, Invalidenstraße 110, Raum 293 - beim U6-Bf Naturkundemuseum

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Begleit-Texte zur Vorbereitung der Welsch-Lektüre

- Beitrag Jan Köttner: Zu Welschs Kritik am „anthropischen Denken“

1. Welschs Argumentationsziel und -resultat:

a) der Mensch ist „nicht Weltfremdling, sondern weltgeprägtes und weltverbundenes Wesen“ (150);

b) aufgrund dieser innigen Verbindung und Verwandtschaft sei es die Welt selbst, die „sich in unserem Erkennen erfasst“: „Daher bezieht sich, wenn wir uns auf die Welt beziehen, eigentlich die Welt auf sich selbst, betreibt ihre Selbsterfassung“ (150). Aus a) und b) folgt

c) die „Weltrichtigkeit“ unserer Kognition, sprich: unsere grundsätzliche, wenn auch im Einzelnen begrenzte und Täuschungen erliegende Fähigkeit, die Welt so zu erkennen, wie sie ist (131). Und aus all dem ergebe sich

d) eine für uns moderne Menschen neue Perspektive – nämlich der „Blick aus der Perspektive der Welt“ selbst – , durch die wir die „modern-anthropische Position hinter uns lassen“, eine Perspektive, die uns aus der „Selbstfesselung“, aus dem „anthropischen Gehäuse der Moderne … herausführen“ könnte (52). Dieser Punkt d) markiert ein Freiheitsversprechen.

2. Kann Welsch sein Versprechen wenigstens ansatzweise einlösen?

Es ist wichtig, zu bemerken, dass Welsch die drei Begriffe „anthropisch“, „anthropo-zentrisch“ und „anthropomorph“ synonym verwendet – genauer gesagt: sein eigenener Begriff „anthropisch“ enthält die beiden älteren und hat für Welsch mehrere Vorteile:

1. den sprachökonomischen Vorteil, nicht ein so elend langes Wort zu sein – schließlich fällt der Begriff innerhalb des Buches unzählige Male;

2. erhält der Begriff „anthropisch“ durch die Einverleibung der zwei älteren Begriffe eine höhere semantische Macht, denn „anthropozentrisch“ und „anthropomorph“ bedeuten eigentlich nicht dasselbe, die beiden Adjektive werden in ganz unterschiedlichen Kontexten und Argumenten verwendet. Indem Welsch sie sich unter dem Begriff „anthropisch“ aneignet, kann er nun gleichsam aus zwei Rohren schießen, um sich zu seinem Argumentationsziel durchzukämpfen. Allerdings hat der Begriff „anthropisch“ dadurch den analogen Nachteil einer doppelläufigen Schrotflinte: Sie trifft zwar fast immer irgendwie oder irgendwas, aber in der Philosophie ist „ungenau“ oft gleichbedeutend mit „daneben“.

3. erlaubt ihm diese begriffliche Operation, andere Denker, die schon tot sind und sich deshalb nicht wehren können, als „Anthropismus“-kritische Gewährsleute einzusetzen. Zum Beispiel Ende der 7. Vorlesung Max Planck, den er mit den Worten zitiert: „Jeder große physikalische Gedanke bedeutet einen weiteren Schritt in der Emanzipation vom Anthropomorphismus“ (126) Dieser Satz ist überaus interpretationsfähig: „Emanzipation“ wohin? Zu was? – Über den Menschen und seine anthropomorph-beschränkte Welt hinaus – zur Welt, wie sie an sich ist – nicht nur für den Menschen. – So versteht es Welsch: Wissenschaft ist „Erkenntnis über unsere primäre mesokosmische Anpassung hinaus … Schrittweise transzendiert so die Wissenschaft die anthropische Enge.“ (124) Das klingt nach Befreiung, Aufbruch, Abenteuer, und gerne packe ich meine Koffer, aber ich wüsste doch gerne, ob jemand einen blassen Schimmer hat, wohin wir uns da transzendieren und emanzipieren.

Gegen Ende des Buches, nachdem Welsch über mehrere Vorlesungen hinweg dargelegt hat, warum der Mensch die Welt ziemlich genau so, wie sie tatsächlich ist, zu erkennen vermag, relativiert er dieses Ergebnis in zweierlei Hinsicht: Zum Einen bleibe unsere Erkenntnis von der Welt unvollkommen; zum anderen sei diese Unvollkommenheit nicht weiter schlimm: Die Kognition reiche zwar nicht zum „absoluten Wissen“ wie bei Hegel; aber sie sei richtig genug, weltverbunden genug, um ihre eigentliche Aufgabe zu erfüllen, die er in drei Wendungen umschreibt:

· „Motor der weiteren Entwicklung des Seins“ zu sein (150);

· „als Generator neuer Seinsformen und Seinsbeziehungen zu dienen“ (150);

· zur „Entstehung immer wieder neuer Möglichkeiten“ beizutragen (151)

Er fasst diese Qualität in folgender Formel zusammen: „Die Kognition ist nicht epistemisch terminativ, sondern ontologisch produktiv“ (151)

Aber ist er damit nicht wieder bei einer altbekannten Position gelandet, die er doch ausdrücklich überwinden wollte, nämlich bei einer Mischform aus Realismus und Idealismus (bzw. Konstruktivismus). Denn was heißt „ontologisch produktiv“ anderes als 'Wirklichkeit herstellend'? Und dieses Zugeständnis an den Idealismus begrenzt er durch die moderat-realistische Annahme, dass wir die Wirklichkeit, wie sie an-sich ist, zwar nicht „terminativ“ erkennen können, aber doch ein gutes Stück weit – ein bisschen von ihrem An-sich. Dann aber hätte Welsch das „theatrum perpetuum der modernen Epistemologie“ (69) nur um einen weiteren Akt verlängert.

Verirrt sich Welsch darüber hinaus nicht auch noch in den Einflussbereich zweier „anthropischer“ Ideologien, nämlich dem Sozialdarwinismus und der Geschichtsphilosophie? Und zwar durch die Setzung eines gattungs- und geschichtsübergreifenden Zwecks der Kognition: „Ontologische Produktivität“, „Weiterentwicklung des Seins“, „Entstehung neuer Möglichkeiten“ (egal, was für welche, Hauptsache neu). Am geleisteten Beitrag zu diesem Zweck könnten die Individuen, Arten und Gattungen fortan gemessen werden. Eine Erkenntnis oder Kognition, die diesem Kriterium der ontologischen Fitness nicht genügt, wird vom Sein aus dem Rennen genommen. Und so bleibt im Verlauf dieses „Prozesses der Welt“ (150) immer nur das übrig, was sich im Sinne dieser Vernunft bewähren konnte; oder in Hegels Formel: „Was wirklich ist, ist auch vernünftig“.

Es ist demnach selbst unter der Annahme, das „Anthropismus“ ein sinnvoller Begriff ist, sehr zu bezweifeln, ob uns Welschs Überlegungen aus der so bezeichneten Denkform herausführen, und zudem schwer zu sagen, wohin uns das führt.

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- Beitrag von Horst Röhe vom 29. Juni 2015-06-29

Humanismus?

Foucault, anlehnend an Heidegger, lehnt den „Humanismus“ ab...da dieser Metaphysik sei. Nach Foucault zeichnet sich der Humanismus dadurch aus, dass es ein Wesen des Menschen gibt, dass der Mensch das Fundament der Erkenntnis und dass er Zweck und Ziel der gesellschaftlich-politischen Praxis und der Geschichte ist. Die Emanzipation des Menschen, d.h. seine Befreiung von allen ihn behindernden Faktoren, wird von Foucault als Mythos abgelehnt.

So liquidieren sie denn das Subjekt und reduzieren den Menschen zum puren Objekt des „Geschicks“ (Heidegger), was so ähnlich klingt, wie bei Hegel der „Weltgeist“, der den Menschen erst sagt, was sie tun sollen. Doch in den Ohren der Herrschenden klingen solche Worte wie Musik, und gern empfehlen sie diese auch den Beherrschten.

Nach Heidegger ist der Mensch nicht „der Herr des Seienden“, „der Beherrscher und Besitzer der Natur“, vielmehr ist er in einen größeren, übergreifenden Weltzusammenhang, in ein „Seinsgeschehen“ eingebunden. Wichtige Erkenntnisse werden dem Menschen „von Außen“ zugesprochen. Anders formuliert: Der Mensch ist nur ein Medium, in dem ein größerer bzw. tieferer Zusammenhang (der „Sinn von Sein“) zum Ausdruck kommt.

Der Mensch ist „nicht ‚der Herr des Seienden’“, aber auch kein bloßes „Medium“; sondern er wird in dem Maße zum handelnden Subjekt, wie er jene Bedingtheiten durchschaut, die er auch mitge- schaffen hat. Denn sonst wäre der Mensch jeder Verantwortlichkeit enthoben. So stilisierten sich Diktatoren, wie Napoleon, Hitler, Busch u.a. als bloß „Hörige“ der „Vorsehung“, die für ihre Untaten nicht verantwortlich waren, grad so wie auch die „Untertanen“, die stets nur gehorcht und ihre Pflicht getan hätten.

Ähnlich wie Heidegger möchte sich Foucault vom erkennenden Subjekt, vom „Ich“ verabschieden und das „es gibt“ entdecken. Er will „an die Stelle Gottes“ nicht den Menschen, sondern ein „anonymes Denken“, ein Wissen ohne Subjekt setzen. Kennzeichnend für Foucaults Denken ist nicht nur die Ablehnung eines theoretischen, eines erkennenden Subjekts, sondern auch die Ablehnung eines Subjekts, das praktische, z.B. moralische, Ansprüche stellt

Verabschieden sich damit Heidegger und Foucault auch von sich selbst, so dass an ihrer Stelle jenes „anonyme Denken“ tritt?

„Der Mensch hat die Geschichte seines Wissens nicht bewusst geschaffen,vielmehr gehorcht die Geschichte des Wissens und der Humanwissenschaften gewissen Determinanten, die sich unserer Verfügungsgewalt entziehen. Und in diesem Sinne verfügt der Mensch über gar nichts mehr: weder über seine Sprache noch über sein Bewusstsein und nicht einmal über sein Wissen.“(9) […]

Sind diese „gewissen Determinanten, die sich unserer Verfügungsgewalt entziehen“, nicht auch Resultat der verdrängenden und repressiven Sozialisierung, der wir alle mehr oder weniger unterworfen sind?

Humanismus kann doch, meiner Ansicht nach, heutzutage vorerst nur soviel heißen, als all das leere Gerede von der „Würde des Menschen“, von seiner „Freiheit“, der „Gerechtigkeit“, dem „Glück“ abzulehnen, da diese so hoch gehaltenen „Werte“ keinen anderen Sinn mehr haben, als die herrschende Inhumanität und Repression zu verschleiern und zu verewigen.

Hier noch einige Bemerkungen zu Heidegger. Ich, kein Jünger Heideggers, empfehle dennoch allen, die sich solange bei der Rektoratsrede und seinen antisemitischen Äußerungen aufhalten, nur um ihn dann und sein ganzes Werk zu diskreditieren, doch wenigstens einiger seiner grundlegenden Texte sorgfältig zu lesen, wie „Der Satz vom Grund“, „Die Frage nach der Technik“, „Bauen, Wohnen, Denken“, um zu sehen, ob und welche Bedeutung diese Schriften für Euer alltägliches Dasein haben könnten, und dann könnt Ihr immer noch danach forschen, ob, wo und wie er verfehlt habe.

Herzliche Grüße Horst

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„BIG HISTORY“ DOKUMENTATION VON DAVID CHRISTIAN

Warum der Mensch in der Weltgeschichte nur eine Nebenfigur ist – Von Arno Widmann in der Berliner Zeitung vom 19.6.2015 (im Magazin, S.11)

David Christian und seine Mitstreiter des Big-History-Projekts zeigen, dass Geschichte und Naturgeschichte zusammengehören. Letztere ist nicht die Vorgeschichte der Ersteren. Sie ist immer präsent. Geschichte ist keine Linie, die sich über ein paar Jahrtausende erstreckt, sondern ein immer wieder neu sich knüpfendes Netz mit ständig wechselnden Verbindungen zwischen geografisch und zeitlich entferntesten Punkten. In immer neuen Konstellationen fügen immer neue Gegenwarten mit immer neuen Vergangenheiten sich zusammen und schaffen neue Zukünfte. Die wieder anderen Platz machen, die durch die Verknüpfungen mit anderen Vergangenheiten ermöglicht werden.

Die Geschichte der Menschheit ist eingebettet in die der Physik, der Chemie. Sie tritt niemals aus ihr heraus. Wir verstehen sie nicht, wenn wir sie nur als menschliche Geschichte betrachten.

„Provincializing Europe“ war die Parole, die der heute in Chicago lehrende indische Historiker Dipesh Chakrabarty im Jahre 2000 ausgab. Er war der Auffassung, dass eine wirkliche Globalgeschichte nicht vom Modell Europa ausgehen könne, sondern sie müsse Europa als eine Provinz unter anderen betrachten. Das Programm von Big History könnte umschrieben werden mit der Parole: „Provincializing Man“. Die Menschheit ist nur einer der Schauplätze, auf und in denen sich Weltgeschichte ereignet.

Zunächst einmal gilt das ganz einfach für die niemals endende Abhängigkeit des Menschen von seiner Umwelt. Er passt sich ihr an. Ob er will oder nicht.

Mehr....: http://www.berliner-zeitung.de/wissen/-big-history--dokumentation-von-david-christian-warum-der-mensch-in-der-weltgeschichte-nur-eine-nebenfigur-ist,10808894,30987060.html

Weitere Fundstellen: https://www.bighistoryproject.com/home

Hier sehen wir 13,7 Milliarden Jahre in 2:36 Minuten: https://www.youtube.com/user/bighistoryproject

P.S.: Soeben lese ich in der New York Times, dass Bill Gates das BigHistoryProject unterstützt! – dazu ein kritischer Text aus dem Guardian:

http://www.theguardian.com/commentisfree/2014/sep/10/big-history-bill-gates-uk-state-schools-education

Was sagen wir dazu?

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Buchempfehlung:

Roger Clarke, Judith Schalansky (Hg.): Naturgeschichte der Gespenster. Eine Beweisaufnahme - 333 Seiten, 23 Abbildungen - Preis: 38,00 € - erschienen bei Matthes & Seitz

Wer hatte im Dunklen noch nie das Gefühl, verfolgt zu werden, wer hat noch nie unerklärliche Geräusche gehört? Egal wie aufgeklärt wir unser Leben gestalten, nur wenige von uns sind völlig immun gegen die Erfahrung des Unheimlichen, gegen wohligen Grusel und nächtliche Angst. Doch was steckt hinter dem, was wir ›Spuk‹ nennen, worüber reden wir, wenn wir von ›Gespenstern‹ sprechen?

Diese Fragen treiben Roger Clarke seit frühester Jugend um. Das Ergebnis seiner lebenslangen Recherche und Obsession ist dieses ungeheuer unterhaltsame Buch, geschrieben nicht ohne ironische Distanz, doch stets präzise wie eine kriminalistische Beweisaufnahme. Clarke nimmt an Séancen teil und übernachtet in verhexten Häusern, beleuchtet okkulte Praktiken und übernatürliche Phänomene, er erzählt die Schauder erregendsten Geistergeschichten von der Antike bis in unsere Gegenwart. Clarke berichtet von Praktiken der Geisterbeschwörungen und Kontaktaufnahmen ins Jenseits ebenso wie von den modernsten Techniken der Gespensterjäger, untersucht aber auch die physikalischen und sozialen Aspekte des Spuks.

Er entwirft eine Taxonomie der Gespenster, klassifiziert Wiedergänger und Poltergeister, Zeitreisephänomene und beseelte Gegenstände: Roger Clarkes ›Naturgeschichte‹ ist ein gelehrter Universalführer durch die Welt der Spuks.

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Aktuelles

Hier eine vielsagende Beschreibung der Lebenssituation der Bevölkerung und des Zustands des Staates in Afghanistan ...

Warum der Staat in Afghanistan versagt - Interview von Andres Wysling – NZZ vom 25.6.2015

http://www.nzz.ch/international/asien-und-pazifik/warum-der-staat-in-afghanistan-versagt-1.18568516

Der Überfall auf das Parlament in Kabul hat weniger die Stärke der Taliban gezeigt als die Schwäche des Staats. Das betont die Afghanistan-Kennerin Micheline Centlivres-Demont.

NZZ: Nach dem Anschlag auf das Parlament in Kabul stellt sich die Frage: Werden die Taliban den Krieg gewinnen?

Micheline Centlivres-Demont: Nein, das glaube ich nicht. Die Taliban werden Kabul nicht erobern. Aber sie können das Land destabilisieren, sie können verhindern, dass die Regierung ihre Aufgabe gut erfüllt. Sie können viel Schaden anrichten.

Liegt es nur an den Taliban, wenn die Regierung schwach scheint?

Das liegt nicht allein an den Taliban, sondern auch an den offiziell Regierenden. Es gibt offensichtlich keine tragfähigen staatlichen Institutionen. Der Staat zieht keine Steuern ein, die Regierung hat kein Geld, die Justiz funktioniert nicht. Wie soll ein Staat funktionieren ohne regelmässige Einnahmen? Für den Grossteil des Budgets kommen andere Staaten und internationale Institutionen auf. Das ist einer der Gründe, warum die Afghanen das Gefühl haben, sie würden fremdbestimmt.

Immerhin gab es Wahlen.

Ja, es gab Wahlen. Die Auszählung der Stimmen war ein Fiasko. Es gibt eine Verfassung, aber de facto ist sie ausser Kraft gesetzt. Afghanistan ist eine Präsidialdemokratie, doch jetzt gibt es neben dem Präsidenten noch einen sogenannten CEO, der in der Verfassung nicht vorgesehen ist. Niemand weiss genau, was seine Aufgabe ist. Das Parlament hat seine Amtsdauer überschritten, es sollte aufgelöst sein. Aber das neue Parlament ist noch nicht gewählt, es gibt kein Wahldatum, um das Wahlgesetz wird gestritten. Neun Monate nach dem Amtsantritt von Präsident Ghani ist noch immer kein neuer Verteidigungsminister gewählt – zuletzt wurde seine Bestätigung durch die Taliban mit dem Anschlag auf das Parlament verhindert.

Das «nation building» ist fehlgeschlagen.

Ja. Es gibt keine zentrale Staatsgewalt. Kabul ist weit weg, auf die Regierung und ihre Minister kommt es nicht an. Für die Leute wichtig sind nur die lokal Mächtigen. Auf die Gouverneure kommt es an. Sie stammen jetzt in der Regel aus der Region. Das ist eine Verbesserung; früher wurden die Gouverneure von aussen eingeflogen. Wichtig sind ferner die Stammeschefs und die Kriegsherren sowie die Provinzräte. Auf regionaler Ebene sind Strukturen entstanden, die funktionieren. Das begann in der sowjetischen Zeit, in den sogenannten befreiten Gebieten.

Aber die Justiz funktioniert nicht?

Es gibt Gerichte, sie fällen Urteile. Die Gefängnisse sind voll. Aber auf welcher Grundlage da Recht gesprochen wird, ist unklar. Die Gesetzeslage ist nach so vielen Umstürzen und Systemwechseln völlig durcheinander. Am Ende urteilen die Richter nach Regeln des Gewohnheitsrechts oder nach persönlichem Gutdünken. Die offizielle Justiz ist teuer, langsam und korrupt. Daneben gibt es die Häuptlingsjustiz, mit den Kriegsherren als Richtern. Und dann haben die Taliban in ihren Herrschaftsgebieten ihre Scharia-Gerichte. Diese geniessen einiges Ansehen, weil sie schnell und billig arbeiten, wenn auch an der Verfassung vorbei. Es werden sehr viele Prozesse geführt.

Worum drehen sich denn die Prozesse?

Am wichtigsten und auch am schwierigsten sind die Streitigkeiten um Grundeigentum und Wasserrechte. Zur kommunistischen Zeit gab es in Afghanistan die Enteignung der Grossgrundbesitzer; sie wurde schludrig durchgeführt und später zum Teil rückgängig gemacht. Dann wurden durch den Krieg Leute von ihrem Land vertrieben, andere nahmen es in Beschlag, später kamen vielleicht die ursprünglichen Besitzer zurück. Es gibt keine Grundbücher in Afghanistan. Es ist ein grosses Durcheinander.

Ist es überhaupt möglich, in Afghanistan einen Staat zu errichten?

Ja. Unter dem letzten König, Zahir Shah, gab es von 1933 bis 1973 einen starken Zentralstaat. Das konnte man sehen: In den Büros der wichtigen Beamten gab es Telefone. Sie berichteten nach Kabul, von dort erhielten sie ihre Anweisungen. In jenen vierzig Jahren gab es einen positiven Wandel. Die Kinder gingen zur Schule, mithilfe der Uno wurde die Landwirtschaft entwickelt, deutsche Unternehmen bauten Industrien auf. Nach dem Sturz des Königs kam die Zerstörung, der Zusammenbruch.

Wie steht es mit der Wirtschaft? Was ist mit dem physischen Wiederaufbau?

Es wird enorm viel gebaut. Man sieht viele Banken – das Geld zirkuliert. Die Grundlage der Blüte sind die Überweisungen aus dem Ausland. Die meisten Familien haben mindestens ein Familienmitglied, das im Ausland arbeitet und Geld nach Hause schickt, meist in den Golfstaaten. Andere versuchen nach Europa zu gelangen.

Und welche Rolle spielt Opium?

Opium ist jetzt allgegenwärtig, nicht nur im Süden, auch im Norden. Opium gab es immer, es wurde in beschränkten Mengen angebaut, für den lokalen Markt. Heute produziert man für den Weltmarkt. Es gibt neuerdings auch Heroinfabriken. Die Opium-Wirtschaft ist der wichtigste Wirtschaftszweig.

Wer Opium sagt, sagt Waffen.

Ja, mit dem Opium wird im Wesentlichen der Krieg finanziert. Lokale Kriegsherren, die Taliban und auf Umwegen auch der Staat und seine Beamten sind ins Opium-Geschäft verwickelt. Sie alle brauchen Geld und Waffen.

Gibt es eigentlich klar abgrenzbare Kriegsparteien?

Nein. Zum Beispiel sind die Taliban im Süden stark, da bekämpfen sie den Islamischen Staat. Im Norden aber sind sie schwächer, da machen sie gemeinsame Sache mit dem Islamischen Staat. Es kommen Tschetschenen, Tadschiken, Usbeken. Sie helfen mit Geld, Waffen und als Militärberater.

Was sagen die Leute zur andauernden Nato-Präsenz?

Viele Politiker sagen, die Nato solle abziehen – das tönt gut. Aber die Regierung will, dass die Stützpunkte bleiben. Und das wollen auch viele Afghanen. Die Stützpunkte geben ein Gefühl von Sicherheit.

Welche Periode war die schlimmste in den letzten fünfzig Jahren?

Die Zeit der Mujahedin nach dem Abzug der Sowjets und dem Sturz der Kommunisten, von 1992 bis 1996. Das waren Wilde, sie brachten nur Unordnung. Es herrschte eine schreckliche Unsicherheit. Darum wurden die Taliban anfänglich von der Bevölkerung ziemlich gern gesehen, als sie die Macht übernahmen. Sie führten sich zwar unmöglich auf, aber sie brachten Ruhe, die Händler waren zufrieden.

Was hat die große Fluchtwelle in der Gesellschaft bewirkt?

Fünf Millionen Afghanen verliessen ihr Land, die Hälfte kehrte zurück. Heute befinden sich noch 1,6 Millionen in Pakistan und 1 Million in Iran. Schlimm ist, dass die Flüchtlinge in Pakistan keine Landwirtschaft betreiben durften. Eine ganze Generation von Kindern hat das Bauern nicht von den Eltern gelernt – und das in einem Land, wo immer noch 70 Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft arbeiten.

Haben die Flüchtlinge dafür etwas anderes gelernt?

Die Exilerfahrung hat Afghanistan total verändert. Die Leute wurden aus ihren engen Verhältnissen hinausgeworfen. Sie lernten Ausländer kennen, sie lernten Sprachen, zum Beispiel Urdu oder Englisch. Viele lernten einen Beruf. Die andere grosse Änderung war das Mobiltelefon. Heute sind die Leute informiert. Sie haben einen weiteren Horizont, sie sehen die Welt anders.

Micheline Centlivres-Demont hat von 1962 bis 2012 Nordafghanistan immer wieder ausgiebig bereist und auch in den pakistanischen Flüchtlingslagern geforscht, zusammen mit ihrem Mann, Pierre Centlivres. Sie ist Herausgeberin des kürzlich erschienenen Sammelbands: Afghanistan. Identity, Society and Politics since 1980. Tauris, London 2015.

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- Neues vom Islamischen Staat

(1) Der Islamische Staat scheint seine Kriegstaktik durch direkte Angriffe auf uns ganz normale Kuffars zu ergänzen, und zwar dort, wo wir uns noch sicher fühlten: in unseren Alltags-, Freizeit- und Urlaubszonen. Zur Erläuterung (Quelle: Wikipedia unter: Kafir):

„Im islamischen Recht werden drei Arten von Kuffar (= Ungläubige) unterschieden:

- die Dhimmis, die mit eingeschränkten Rechten unter islamischer Herrschaft leben.

- die Harbins, die ohne Rechte, auch ohne Recht auf Leben, außerhalb des islamischen Herrschaftsgebiets leben.

- die Musta’mins, denen durch einen zeitweiligen Schutzvertrag (Amān) ähnliche Rechte gewährt werden wie den Dhimmis, damit sie das islamische Herrschaftsgebiet betreten können. Der Status des Musta'min ist immer zeitlich begrenzt.“

Die UrlauberXinnen des Strandhotels Riu Imperial Marharba in Sousse waren wohl zu Harbis-Kuffars erklärt worden.

(2) Der IS weitet derzeit sein Operationsgebiet nach Europa, genauer auf den Balkan aus. Es geht um die Errichtung eines Kalifats namens „Sandschak“. Der IS greift hier auf Bezeichnungen aus der Zeit des Osmanischen Reichs zurück. Sandsdchak ist nämlich der Name einer Verwaltungseinheit. Der Balkan war in fünf Sandschaks eingeteilt, und der Sandschak, um des es hier geht, war der Sandschak Novi Pazar, der Teile Serbiens, des Kosovo und Montenegros umfasst. Dazu nachfolgender Text aus der Frankfurter Rundschau:

IS droht Balkan mit Terror - Von NORBERT MAPPES-NIEDIEK – In: Frankfurter Rundschau vom 9. Juni 2015

http://www.fr-online.de/politik/-islamischer-staat--is-droht-balkan-mit-terror,1472596,30910974.html

In einem Video drohen Kämpfer des „Islamischen Staats“ mit einer Terrorwelle in Bosnien, Serbien und Albanien. Geschickt knüpfen die Terroristen an die Enttäuschung an, die viele Menschen in der Region empfinden.

In einem Video, das seit Tagen im Internet kursiert, drohen Kämpfer des „Islamischen Staats“ (IS) mit einer Terrorwelle in Bosnien, Serbien, dem Kosovo, Albanien, Mazedonien und dem Sandschak – das ist eine Region, die teils zu Serbien und teils zu Montenegro gehört.

„Wegen Allah werdet ihr euch fürchten, noch vor die Tür zu gehen“, sagt darin auf Albanisch ein bärtiger Uniformierter, der mit dem arabischen Kampfnamen Abu Muqatil al-Kosovi vorgestellt wird. „Ihr werdet euch fürchten, zur Arbeit ins Büro zu gehen und sogar niedergeschlagen und voller Angst sogar zu Hause zu sitzen.“ Der Terror werde die Ungläubigen „bis in ihre Träume“ verfolgen.

Der Film des IS-eigenen „Hayat Media Centre“ mündet in den Appell an die Muslime auf dem Balkan, dem „Ruf der Khilafah“ zu folgen, also ein islamisches System zu errichten, nicht aber, sich den Kämpfen in Syrien oder dem Irak anzuschließen. Das lässt befürchten, dass der „Islamische Staat“ auf dem Balkan eine neue Front aufmachen will.

"Bringt sie um! Tötet sie!"

Sieben Kämpfer treten in dem Video auf, allesamt Männer. Alle sind unverpixelt zu sehen; fünf von ihnen sprechen Bosnisch, einer davon mit albanischem Akzent, und zwei Albanisch. Ein gerade dem Jugendalter erwachsener Dschihadist, der als Salahuddin al-Bosni erscheint, fordert die Muslime auf, die ungläubigen „Kuffar“ zu töten:

„Wenn ihr könnt, legt ihnen Sprengstoff unters Auto! Wenn ihr könnt, nehmt irgendein Gift und tut es ihnen ins Getränk, ins Essen. Bringt sie um, bringt sie um! Tötet sie, wo immer ihr sie trefft!“

Im Hintergrund des Videos sind nahöstliche Straßenszenen zu erkennen. Einmal läuft ein Mann mit Kind durch einen orientalischen Garten. „Hier“, sagt die Stimme aus dem Off, ohne den Ort anzugeben, „gehen Muslime mit Würde einher, treffen einander in Sicherheit und ziehen ihre Kinder groß, und sie hören auf niemanden, nur auf Allah.“

Der Sprecher schlägt einen Bogen durch die Geschichte des Balkan und knüpft dabei geschickt an die Enttäuschung an, die viele Menschen in der Region über die neuen Nationalstaaten empfinden. „Kurz vor dem Ersten Weltkrieg, vor 100 Jahren also“, sagt die Stimme in perfektem Englisch mit amerikanischen Akzent, „waren die Muslime auf dem Balkan von einer weltweiten Offensive gegen den Islam betroffen, die sich als besonderes Ziel setzte, in den Landen der Muslime ein nationales Bewusstsein und die Schaffung von Nationalstaaten hervorzurufen.“

Es folgt eine Zeitreise durch das 20. Jahrhundert, unterlegt von historischem Filmmaterial. Über die Balkankriege der 90er Jahre sagt ein Abu Safiyah al-Bosni, „der Westen mit den USA an der Spitze und mit dem christlichen Europa“ hätten „zugelassen, wie unter den Augen der ganzen Welt Muslime wie Schafe geschlachtet wurden“.

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Ciao, Wolfgang Ratzel

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Wolfgang Ratzel

Aus einem drängenden Endbewusstsein entsteht der übermäßige Gedanke an einen anderen Anfang.

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