Bloodlands. Das neue Buch Timothy Snyders.

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Vollbrachten die Nationalsozialisten, vollbrachte Hitler eine "asiatische" Tat vielleicht nur deshalb, weil sie sich und ihresgleichen als potentielle oder wirkliche Opfer einer "asiatischen" Tat sahen. War nicht der "Archipel Gulag" ursprünglicher als Auschwitz? So wie Ernst Nolte vor einem Vierteljahrhundert würde heute kaum noch jemand fragen. Aber mit Sätzen wie "Ich möchte den Holocaust natürlich nicht relativieren, aber..." oder mit dem Hinweis, dass man weder auf dem rechten noch dem linken Auge blind sei, sollte man in der nächsten Zeit rechnen. Mitte Juli 2011 wird die deutsche Ausgabe der international stark diskutierten "Bloodlands" des Harvard-Historikers Timothy Snyder erscheinen (1).

Eine Episode als Einstieg. Minsk, 7. November 1941. Tag der Oktoberrevolution. Die deutschen Besatzer zwingen die Minsker Juden ihre Feiertagskleidung anzulegen. Sie drücken ihnen erbeutete sowjetische Fahnen in die Hand und zwingen sie, Revolutionslieder zu singen. Dann werden sie nach Tuchinka verfrachtet, wo sie am 9. November, dem deutschen Nationalfeiertag, erschossen werden. Tuchinka war drei Jahre vorher der Ort stalinistischer Massenmorde gewesen. Es ist dies ein gespenstisches Ereignis, in dem sich die Geschichte der "Bloodlands" spiegelt.

"Bloodlands" - darunter versteht Timothy Snyder die Länder Polen (vor der Westverschiebung), das Baltikum, Weißrussland und die Ukraine. In diesen "Bloodlands" wurden Snyder zufolge- und der Autor beansprucht für sich, vorsichtig mit den Zahlen umzugehen - zwischen 1933 und 1945 vierzehn Millionen Menschenmit voller Intention ermordet. Nicht mitgezählt sind dabei die Gefechtstoten, die Bombenopfer und die bei der Zwangs arbeit Getöteten. Synyder päsentiert dem Leser auf der Höhe der historischen Forschung eine sich dem Vorstellungsvermögen entziehen wollende Katastrophenabfolge, beginnend mit dem epochalen Jahr 1933.

Der erste sowjetische Fünfjahresplan mit seinem "Sprung" in die Industrialisierung bedeutete gewaltsame Kollektivierung, "Kulaken"-Verfolgung und Massendeportationen - vor allem, aber nicht nur in der Ukraine, wo man die Vorgänge erinnerungspolitisch als "Holodomor" bezeichnet (2). Nach Snyder starben allein in der Ukraine 3,3 Millionen Menschen den Hungertod. Der Autor hält zahlreiche Fälle von Kannibalismus für belegt und kommentiert lakonisch: A black market arose in human flesh. Für Stalin, so der Autor, war ein hungernder Bauer ein klassenfeindlicher Aggressor. Hunger war konterrevolutionärer Widerstand. Er ließ Brigaden junger Männer in die Dörfer einfallen, die auf der Suche nach angeblich gehortetem Getreide vergewaltigten, folterten und töteten. Als 1933 die Ernste von der Roten Armee und Parteiaktivisten eingebracht wurde, lebten die Bauern, denen im Frühjahr die Aussaat aufgezwungen worden war, nicht mehr.

Nach dem Attentat auf Stalins Vertrauten Kirov entwickelte sich eine neue Verfolgungswelle, die Snyder Klassenterror, und nicht, wie etwa Furet Klassengenozid nennt. Vermeintliche äußere Bedrohung wurde auf den "inneren Feind" projiziert. An die Regionen ging die "Order 00447" (diese Benennungen von Massenmordbefehlen!): Betr.: Operationen zur Unterdrückung ehemaliger Kulaken, Krimineller und anderer krimineller Elemente. Und wieder funktionierte der stalinistische Zentralismus: Die beauftragten Troikas "schafften" 60 Personen pro Stunde. Ihr Urteil Tod oder Gulag. It was easier to kill than to transport, kommentiert der Autor die Tatsache, dass 1937/38 Allein in der Ukrainischen SR 71.000 Menschen erschossen wurden. Viele der Opfer waren gerade aus dem Gulag zurückgekehrt.

Dabei darf man vor lauter Schauprozessen und Klassenterror eine Entwicklung nicht übersehen, den Snyder in marxistischer Diktion "Konterrevolution" nennt: den "Nationalterror". Der ukrainische NKVD-Chef Balytzkyi "entdeckte" einen Zusammenhang zwischen Hungersnot und Spionagetätigkeit für die (imaginierte) Polnische Militär-Organisation. Folgerichtig trat die "Order 00485" in Kraft. zweiköpfige Kommissionen ("Dvoika") schafften bis zu 2000 Todesurteile pro Tag. 1937/38 wurden 111.000 Sowjetbürger polnischer Herkunft wegen Spionage exekutiert, die meisten in Weißrussland und der Ukraine.

Zwischenbemerkung des Rezensenten. Spätestens hier wünscht man sich den Engel der Geschichte, der anders als der benjaminsche die Fähigkeit hat, sein "Halt" auch umzusetzen.

Mit dem Hitler-Stalin-Pakt kann Nazideutschland seine Essenz zeigen. Gleich nach dem 1. September 1939 wurden - auch verwundete - polnische Gefangene erschossen. Allein im Monat September wurden mindestens 50.000 polnische Zivilisten erschossen. Die Aufteilung Polens ist bekannt. Bevölkerungsgruppen wurden - wieder einmal - verschoben. "Umschlagplatz" wird buchstäblich zum Topos. Die Ghettos wurden errichtet. Spätestens hier beginnt man die Verwaltungssprachen zu hassen.

Die Rote Armee machte nach ihrem Einmarsch ca. 100.000 Gefangene, behielt aber nur die Offiziere in Gefangenschaft. Usually the Red Army behaved well, schreibt Snyder. Anders als das NKVD, das aus den nun Weißrussland und der Ukraine angeschlossenen Gebieten 140.000 Polen in Güterzügen nach Kasachstan oder Sibirien deportierte. Im Frühjahr 1940 wurden die gefangenen polnischen Offiziere zu den bekannten Orten des Massenmordes gebracht (darunter Katyn), ein Zeichen für the great civilizational transformation of Stalinism. Fast Simultan wurden im Generalgouvernement in einer "Außerordentlichen Befriedungsaktion" 6000 Polen exekutiert. Insgesamt wurden zwischen 1939 und 1941 200.000 polnische Staatsbürger getötet und 1 Million deportiert.

Die paradoxe (andere sagen: repräsentative) Zusammenarbeit endete bekanntlich mit dem 22. Juni 1941. Ihr heiliges Weihnachten feierten die Deutschen in einem ausgehungerten Kiew. Intentionales Aushungern war wieder eine offizielle Waffe: Leningrad, Kiew, Minsk. 2,6 Millionen sowjetische Kriegsgefangene wurden systematisch ausgehungert, eine halbe Million erschossen.

Die Einsatzgruppen funktionierten mit Wehrmacht, Polizei und - wie Snyder hervorhebt - zahlreichen freiwilligen Helfern aus den baltischen Ländern und der Ukraine. Hass auf die Sowjetunion und eliminatorischer Antisemitsmus bedeuteten 115.000 Opfer in Litauen, 70.000 in Lettland, 6000 in Estland. Im ehemaligen Ostpolen (jetzt Westukraine) wurden fast 20.000 Juden - diesmal ohne deutsche Mitwirkung - ermordet. Die Massaker waren unvorstellbar. Allein in Kiew wurden bekanntlich 33.8oo Juden ermordet. Zur Identifizierung dienten die Ausweise der Stalinzeit.

Nach dem Scheitern des Blitzkrieges begann die "Endlösung": The killing was less a sign than a substitue for triumph, schreibt Snyder, in logistical terms mass murder is simpler than mass deportation. Das hatten auch schon Stalins Verfolger praktiziert. Die Darstellung des nicht enden wollenden Grauens ist schwer erträglich. Der Gefahr, dass die enormen Zahlen die Opfer erneut verdinglichen, versucht Snyder mit Beispielen aus der Opferperspektive zu entgehen. Es kann nicht gelingen.

Snyder geht mit dem Wirtschaftshistoriker Tooze auf die kriegswirtschaftlich-ideologischen Motive des Holocaust ein (das Töten "unnützer Esser"), das Errichten der Todesfabriken durch oft ukrainische Helfer (Pradniki), die Transporte ab "Umschlagplatz" (im engl. Original auf Deutsch) und beschreibt in einer Nüchternheit, die des Autors Betroffenheit nur schwer verbirgt, die Scheiterhaufen der Leichenberge, an denen sich die Täter noch wärmten.

1943 war Polen vier Jahre unter deutscher Besatzung. Im Laufe des Jahres zeichnete sich die Niederlage der Besatzer und eine neue Besetzung durch die Rote Armee ab. Die überlebenden polnischen Juden had every reason to prefer the Germans udn to see the Red Army as liberators, urteilt Snyder. So wurde die Wahl des Zeitpunktes des Aufstandes im Warschauer Ghetto von der Distanz der Roten Armee bestimmt. Der Aufstand wurde niedergeschlagen, jews died in their own city, so Snyder bitter, as the Poles beyond the walls livend und laughed ... The merry-go-round ran every day.

Eineinviertel Jahr später begann die Heimatpartei den zweiten Warschauer Aufstand. Auch hier ein Dilemma: ohne Hilfe der Roten Armee war der Aufstand chancenlos, griffe die Rote Armee ein, würde Stalin ein ihm genehmes Regime installieren. Auch die kommunistische Volksarmee beteiligte sich. Die Deutschen setzten die russische antikommunistische Kaminski-Einheit sowie Azerbeidschaner ein. Der Ausgang ist bekannt. Warschau wurde auf Befehl Himmlers zerstört. In den beiden Monaten August und September 1944 allein starben 150.000 nichtkämpfende Polen.

Zu den Paradoxien des 20. Jahrhunderts gehört, dass gerade der "Marxist-Leninist" Stalin in ethnischen Kategorien dachte. Nach dem Krieg - so die Vorstellung - sollte Deutschland (nur) von Deutschen, Polen von Polen und die Westukraine von Ukrainern bewohnt werden. Die Rote Armee schuf hier Fakten - unter enormen Verlusten. Die Lücken wurden von Gulag-Gefangenen und Konskribierten aus Weißrussland und der Ukraine gefüllt: They had personal reasons to endorse the propaganda, einer der Gründe für die Massenvergewaltigungen, die folgen sollten. Enorme "Bevölkerungstransfers" wurden exekutiert. Stalins Order an Gomulka: he should create such conditions for the Germans that they will escape themselves. 1947 hatten 7,6 Millionen Deutsche Polen verlassen. Insgesamt waren 400.000 Deutsche gestorben (in Lagern oder bei den Kämpfen). In das frei gewordene Gebiet wurden ihrerseits Polen aus der Westukraine transferiert, ohne großen Widerstand, wie Snyder schreibt, der schließt: Under Stalin, the Soviet Union had evovlved from a revolutionary Marxist state into a large multinational empire with a Marxist covering ideology. Die hier beschriebenen Prozesse werden übrigens luzide in dem Roman Wassili Grossmans, Leben und Schicksal (3) literarisiert, für mich eine großartige Ergänzung zur Darstellung des Historikers.

Man mag über den reißerischen Titel streiten (ich war sehr gespannt, wie der Titel ins Deutsche übersetzt wurde, man entschied sich für "Bloodlands"). Man kann - wie geschehen - über Bodycounts und Opferkategorien diskutieren (wenn man denn mag) - eine neue Perspektive wird durch das Buch sicherlich eröffnet. Wir erkennen eine unsere Vorstellungskraft fast übersteigende Abfolge von Terror und Krieg in Osteuropa, wobei mir 1933 als Beginn etwas willkürlich erscheint. Die "Bloodlands" wurden schon vorher heimgesucht (Erster Weltkrieg, Revolutionskriege) - als Raum für den "europäischen Bürgerkrieg" im Sinne Enzo Traversos (nicht Noltes). Traverso urteilt über das Thema: Die Zeit für eine leidenschaftlslose und distanzierte Historisierung scheint noch nicht reif zu sein (4). Die deutsche Rezeption des Snyderschen Werkes wird also eine Art Probe aufs Exempel sein. Wird die Schwarzbuch-Kommunismus-Debatte wieder belebt oder ist eine nüchterne Bewertung möglich?

Andererseits: Kann man denn angesichts des Beschriebenen "leidenschaftslos" sein? Denn: The Nazi and the Stalinist systems must be compared, not so much to understand the one by the other but to understand our times and ourselves, so Snyder im Schlusskapitel "Humanity".

(1) Timothy Snyder, Bloodlands. Europe between Hitler and Stalin. London 2011. Deutsche Übersetzung: Bloodlands.Europa zwischen Hitler und Stalin. 1933-1945. München 2011 (Beck-Verlag).

(2) Lina Klymenko u. Anne-Katrin Lang, Hungersnot oder Genozid, Blätter f. deutsche und internationale Politik. 11/09

(3) Wassili Grossmann, Leben und Schicksal, Berlin 2007

(4) Enzo Traverso, Im Bann der Gewalt. Der europäische Bürgerkrieg 1914-1945, München 2008

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