"Holodomor" - wenn deutsche Politiker Geschichte machen

Bundestagsresolution Am Mittwoch, 30. November 2022, stimmt der Bundestag nach kurzer Aussprache über einen Antrag mit dem Titel „Holodomor in der Ukraine: Erinnern – Gedenken – Mahnen“ ab. Haben die Abgeordneten sich das gut überlegt?

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Alle Parteien der "Mitte", die Ampelfraktionen und die CDU-CSU-Fraktion, unterstützen den Antrag. Der Bundestag - so die etwas gestelzte Erklärung – trage die „historisch-politische Einordnung“ des „Holodomor“ als „Völkermord“. Iniitiert hat die Resolution der grüne Abgeordnete Robin Wagener. Der FAZ sagte der Vorsitzende der deutsch-ukrainischen Parlamentariergruppe, Putin stehe „in der grausamen und verbrecherischen Tradition Stalins“.

Offensichtlicher geht es kaum. Die Erklärung des Bundestags kann nur propagandistische Zwecke haben. Schließlich sind „wir“, so ein Minister, „im Krieg mit Putin“. Schließlich haben ukrainische Politiker dies gewünscht, der Parlamentspräsident zum Beispiel, auch der Außenminister. Annalena Baerbock hatte sich für die Anregung brav bedankt, per Twitter, wie man das so macht. Auch die großen Medien haben in diesem Jahr ausführlich über das "Homodor"-Gedenken in der Ukraine berichtet, inklusive junger Frau in Tränen und Mütterchen am Grab. "Stilles Gedenken in Zeiten des Krieges", so die Tagesschau am 26. November.

Wenn die Mehrheit im Bundestag kritiklos die Doxa ukrainischer Nationalisten übernimmt, kann es kann nicht um die „Wahrheitsfindung“ gehen. Die Bezeichnung des schrecklichen Geschehens von 1932/33 als Genozid ist in der Geschichtswissenschaft hoch umstritten. Selbst ein unbedingter Ukrainefreund wie Timothy Snyder verwendet den Begriff nicht, weil er in diesem Fall zu missverständlich ist (siehe Diskussion Wiki)

Aber selbst wenn diese symbolische Geste zur moralischen Unterstützung der Ukraine im Krieg gegen die RF verständlich scheint, schließlich muss man „Zeichen setzen“, verwundert einen doch die Arroganz der Erklärung. In einem politisch aufgeladenen wissenschaftlichen Streit übernehmen unsere Abgeordneten locker und ohne epistemologische Skrupel die Begrifflichkeit und Deutung einer Partei, ohne jede Abwägung der Argumente. In der Beurteilung einer Völkermordfrage lassen die Repräsentanten des Tätervolks par excellence jede Demut fallen und erlauben sich, die Komplexität des entsetzlichen Hungertodes von Millionen Sowjetbürgern, darunter 3,5 Millionen Ukrainer, aber auch über 3 Millionen Russen und 1,2 Millionen Kasachen, auf eine bewusst herbeigeführte ethnische Vernichtung des ukrainischen Volkes zu reduzieren. Der „Iwan“ war es, wieder einmal. Die Abgeordneten sehen eine direkte Linie von Stalin zu Putin und dem aktuellen Krieg. Sie scheinen gute Brillen zu haben. Anscheinend reflektieren die Abgeordneten nicht, was sie tun. Und, vor allem, was ihre heldenhaften Vorfahren ein Jahrzehnt nach der Hungerkatastrophe von 1932/33 taten.

"Völliger Kahlfraß" und Hungerblockaden

Welche Realität folgte zum Beispiel dem Befehl des Oberbefehlshabers Erich von Manstein vom 20.11.1941:

Die Ernährungslage der Heimat macht es erforderlich, dass sich die Truppe weitgehend aus dem Lande ernährt und dass darüber hinaus möglichst große Bestände der Heimat zur Verfügung gestellt werden. Besonders in den feindlichen Städten wird ein großer Teil der Bevölkerung hungern müssen. Trotzdem darf aus missverstandener Menschlichkeit nichts an Gefangene und Bevölkerung … verteilt werden.

Die Folgen dieser Ernährungspolitik waren fatal. Sogar Saatgut wurde aquiriert. Das Kriegstagebuch des Wirtschaftsstabes Ost vom 26.1.1942 notiert in agronomischer Sprache:

Hinter der Front bildet sich in einer mehr als 150 km erstreckenden Breite ein Gebiet, in dem völliger „Kahlfraß“ eingetreten ist, bzw. noch eintritt

Hitler hatte nach den Worten von Generaloberst Franz Halder beschlossen,

Moskau und Leningrad dem Erdboden gleich zu machen, um zu verhindern, dass Menschen darin bleiben, die wir dann im Winter ernähren müssten. Die Städte sollen durch die Luftwaffen vernichtet werden. Panzer dürfen dafür nicht eingesetzt werden (Kriegstagebuch, 8.7.1941).

Schließlich entschied man sich für eine Hungerblockade Leningrads inklusive Verzicht auf eine Kapitulationsforderung. Die Blockade dauerte fast 500 Tage, vom 8. September 1941 bis zum 18. Januar 1943 dauern sollte. Generalquartiermeister Eduard Wagner schrieb am 9. September 1941 an seine Frau:

Zunächst muss man sie in Petersburg schmoren lassen, was sollen wir mit einer 31/2 Millionenstadt, die sich nur nauf unser Versorgungsportemonnaie legt? Sentimentalitäten gibt’s dabei nicht.

Aus einem Ereignisbericht der UdSSR vom 18. Februar 1942:

Schon im Dezember wiesen große Teile der Zivilbevölkerung ein regelrechtes Massensterben. Es passierte immer wieder, dass Personen auf den Straßen zusammenbrachen und tot liegen blieben. Im Laufe des Januar begann ein regelrechtes Massensterben. Namentlich in den Abendstunden werden die Leichen auf Hundeschlitten zu den Kirchhöfen gefahren, wo sie wegen des gefrorenen Bodens einfach in den Schnee geworfen werden.In der letzten Zeit sparen sich die Angehörigen den weiten Weg und werfen die Leichen einfach im Straßengraben ab...

Am Ende waren bis zu einer Million Bewohner Leningrads an Hunger gestorben. Auch andere Großstädte wurden ausgehungert. Charkow (430.000 Einwohner) z.B. wurde systematisch ausgeplündert. Mindestens 12.000 Menschen starben, weil

die deutsche Wehrmacht am Unterhalt der Stadtbevölkerung keinerlei Interesse (hatte). Äußerste Härte in der Behandlung der Bevölkerung ist nötig.

so der deutsche Stadtkommandeur am 23.10.1941.

Ähnliches galt auch für die Krim. Der Ortskommandant von Kertsch versicherte seine Vorgesetzten am 27.11.1941:

Die Erfassung der in Kertsch lebenden Juden ist noch nicht abgeschlossen. Die Liquidation der Juden wird wegen der gefährdeten Ernährungslage der Stadt beschleunigt durchgeführt werden.

Die Aushungerungspolitik der deutschen Wehrmacht auf der Krim wurde erst mit der Zunahme der Partisanenaktivität und des dringenden Bedarfs an Arbeitsskräften abgemildert. „Zuführung der sowj. Kr.Gef.in die Rüstungs- und Kriegswirtschaft“, nannte dies Generalfeldmarschall Keitel.

Holodomor der Kriegsgefangenen

Die deutschen Abgeordneten ignorieren anscheinend auch das Schicksal der sowjetischen Kriegsgefangenen (darunter naturgemäß viele ukrainische Rotarmisten). Von den 5,7 Millionen sowjetischer Kriegsgefangenen starben 3,3 Millionen. Die meisten wurden einfach ausgehungert. Im Kriegstagebuch des Wirtschaftsstabes Ost vom 23.10,1941 wurde angeordnet:

Die Reihenfolge der Dringlichkeit der Nahrungsmittel-Versorgung wird wie folgt festgelegt:

a)Wehrmacht

b) Heimat

c) Zivilbevölkerung in den besetzten Ostgebieten

d) Kriegsgefangene

Generalquartiermeister Wagner gab am 13.11.1941 folgende „Merkpunkte“ an:

Nichtarbeitende Kriegsgefangene in den Gefangenenlagern haben zu verhungern.

Arbeitende Kriegsgefangene koennen im Einzelfalle auch aus Heeresbeständen ernährt werden. Generell kann das angesichts der Ernährungslage leider nicht befohlen werden.

Im Minsker Hauptlager wurden 100.000 Gefangene zusammengepfercht. Die Baracken reichten bei weitem nicht aus. Die Gefangenen erhielten oft keine Nahrung. Im Winter 1941/42 kam es zu einem Massensterben durch den Teufelskreis Mangelernährung, Entkräftung, Fleckfieber, Erfrierungen und „Aussonderungen“.

Unter den Zwangsarbeitern im Deutschen Reich wurden die sowjetischen (also auch ukrainischen) Kriegsgefangenen am schlechtesten behandelt. In den „Russenlagern“ setzte sich das Martyrium fort. Ein deutscher Landesschütze, Zeuge des massenhaften Sterbens, machte am 27. Januar 1942 folgende Notizen:

Alle Leichen waren nackt, stark mit Kot beschmutzt und so abgemagert, dass man die Rippen zählen konnte... Heute starben 101. Und 65 Kranke kamen von den Arbeitskommandos zurück ins Lager... zum Sterben.

Von den über 40.000 sowjetischen Kriegsgefangenen in Bergen-Belsen, Fallingbostel und Wietzendorf überlebten nur 5.000.

Ein amerikanischer Augenzeuge berichtete am 2.4.1945, nach der Befreiung des Stalag Sennelager:

Als amerikanische Truppen diesen Ort heute überrollten, fanden sie fast 9000 Männer, die wie Wilde um ein paar Laibe schwarzes Brot kämpften. Sie sahen, wie die Leute einander an die Gurgel fuhren wegen einer Handvoll Mehl, das im Dreeck zerstreut war... Wenn die Amerikaner, die heute hier waren, die Deutschen nicht schon hassten, dann tun sie es jetzt. Es ist schwer für einen Amerikaner zu begreifen, dass es so einen Ort überhaupt geben kann...

Heute haben sich wir Deutschen natürlich geändert. Unsere Politik ist „werteorientiert“. Wir verabscheuen Aushungerung. Wir boykottieren zwar die russische Ökonomie, um das Land zu ruinieren, aber historische Gewalt und Verbrechen an Menschen, wie das Verhungern von Millionen Menschen durch eine völlig verfehlte Wirtschaftspolitik, verbunden mit extremer Brutalität, nennen wir Völkermord. Nie haben „wir“ so etwas begangen. Den Holocaust, natürlich. Dazu stehen wir und führen genau deswegen unsere "werteorientierte Außenpolitik". Aber so etwas wie den Holodomor – niemals! Für den Holocaust sind wir Deutschen verantwortlich, und er ist einmalig, aber – wir sehen und erklären im Modus der Empörung im Parlament: es gab unter Stalin und gibt unter Putin ähnliche Verbrechen wider die Menschheit, pardon Menschlichkeit. Und die erlauben eine "historisch-politische Einordnung" als "Völkermord". Aber unsere eigenen gezielten Aushungerungen im zweiten Weltkrieg? Wie bitte? Die was?

Der Tod ist nicht nur ein Meister aus Deutschland. Allerdings ist Deutschland auch ein Meister des Verdrängens der eigenen Verbrechen. Und zwar auch durch das "Erinnern – Gedenken – Mahnen" angesichts der Verbrechen der Anderen. Vor allem, wenn „wir“ wieder einmal „im Krieg“mit Russland sind. Aber vergessen wir nicht: Verbrechen wie das bewusste Aushungern Leningrads und das bewusste Aushungern von Millionen sowjetischer Kriegsgefangenen lassen sich nicht verdrängen. So wenig wie Symbolpolitik, die nichts kostet, außer Glaubwürdigkeit.

https://en.wikipedia.org/wiki/Holodomor_genocide_question

Hamburger Institut für Sozialforschung (Hrsg.), Verbrechen der Wehrmacht, Hamburg 2002

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