Cet absurde nom de Swann - Proust und die Dreyfusaffaire (2. Teil)

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Die Dreyfusaffaire

Für Hannah Arendt stellt die Dreyfusaffaire die einzige Episode dar, in der sich die unterirdischen Kräfte des 19. Jahrhunderts im vollen Licht der Geschichte gezeigt haben. Gezeigt hat sich vor allem der Antisemitismus, der idelogisch und sprachpolitisch vor allem durch Edouard Drumont "gesellschaftsfähig" gemacht wird. 1886 veröffentlicht er "La France juive", ein Buch, das schnell ein Bestseller wird. Man liest Passagen wie diese: Sollen die hirnkranken Juden sich behandeln lassen! Warum aber belasten sie mit ihren eigenen Geisteskrankheiten Völker, die bis dahin ruhig und glücklich lebten? ... Man findet immer einen Juden, der den Kommunismus oder Sozialismus predigt und verlangt, dass man die Güter der alten Einwohner aufteilt, während seine Religionsgenossen, barfüßig, angekommen, sich bereichern ... Der Jude hat es geschafft, seine Neurose unserer ganzen Generation zu übertragen. 1892 gründet er die Tageszeitung "La Libre Parole", die teilweise eine Auflage von 260000 Exemplaren erreicht. Eine Zeitung auf der technischen Höhe der Zeit, mit innovativer Photogravur und gut ausgebildeten Zeichnern, die die Visiotypie des jüdischen Intellektuellen weiterentwcikeln.

Zur Ereignisgeschichte:

Der Hauptmann Alfred Dreyfus wird aufgrund eines Stück Papiers, das von einer Putzfrau im Papierkorb des deutschen Militärattachés Schwartkoppen gefunden wird und angeblich seine Handschrift trägt, beschuldigt, Militärgeheimnisse verraten zu haben. Er wird zur lebenslänglichen Deportation auf die Teufelsinsel verurteilt. Das Bild der "Entehrung" Dreyfus' durch Abnahme seiner Offiziersinsignien und Zerbrechen des Säbels im Petit Journal gehört bis heute zur kollektiven Imagerie (nicht nur) Frankreichs. Der zunächst antisemitisch eingestellte neue Chef der statistischen (Geheimdienst-)Abteilung, Oberst Picquart, entdeckt durch Handschriftenvergleich, dass Dreyfus ohne jede Schuld ist. Er entdeckt auch den richtigen Spion: Major Esterhazy. In der Presse erscheinen erste Andeutungen. Picquart informiert den Chef des Generalstabs, Boisdeffre. Resultat: er wird nach Tunesien versetzt. In seiner Not informiert er im Juni 1897 über seinen Rechtsanwalt den Vizepräsidenten des Senats, Scheurer-Kestner.

Im November schreibt Zola seinen ersten Artikel im Figaro. Er endet: Die Wahrheit ist auf ihrem Marsch, und nichts wird sie aufhalten. Ein zweiter folgt - mit dem Titel "Das Syndikat". Zola dreht den Vorwurf, die Kampagne für einen erneuten Prozess Dreyfus sei Resultat eines von jüdischen Bankiers finanzierten "Syndikats": Zu diesem Syndikat, ah, will ich gehören, und ich hoffe, alle ehrbaren Leute in Frankreich ebenfalls! Der Figaro verliert Abonnenten und beendet die Kampagne. Im Dezember desselben Jahres wird Esterhazy der Prozess gemacht. Esterhazy wird freigesprochen, verlässt den Gerichtssaal unter Akklamationen: "Tod den Juden!" und "Tod dem Syndikat". Zwangslogisch wird Picquart seinerseits festgenommen. Der Dreyfusisme scheint schnell besiegt.

Am 12. Januar 1897 übergibt Zola Clemenceau "Dynamit", wie Michel Winock es formuliert. Der Politiker findet sofort den passenden Titel: "J'accuse" erscheint am 13. Januar im Aurore: Es ist ein offener Brief an den Präsidenten der Republik. Ich klage an den General Boisdeffre und den General Gonse, sich zu Komplizen des Verbrechens gemacht zu haben... Ich klage an die drei Schriftexperten, lügnerische Berichte verfasst zu haben... Ich klage an die Kriegsbüros, in der Presse, vor allem im Eclair und im Echo de Paris eine nichtswürdige Kampagne geführt zu haben ... Ich habe nur eine Leidenschaft, die des Lichts, im Namen der Humanität, die so gelitten hat und die ein Recht auf Glück hat. Mein flammender Protest ist nichts als der Schrei meiner Seele. Man soll es wagen, mich vors Schwurgericht zu zerren... Ich warte...

Der Artikel hat Folgen. Der Historiker Pierre Birnbaum hat minutiös die Polizeiarchive durchsucht und belegt: Überall in Frankreich und in Algerien kommt es zu Demonstrationen. Ein Polizeibericht: In Paris erleben wir, was in Alger und Oran - und in Wien passiert ist (zum Teil blutige Pogrome). Vor allem Studenten schreien: Tod den Juden! oder Raus mit Zola!" Die politischen und intellektuellen Führer der Rechten rufen zu Protesten auf. Interessanterweise - es mutet fast brechtisch an - übernehmen Schlachtergesellen mit ihren Hunden dabei die "Security". Insgesamt gibt es in ganz Frankreich mehrere Hunderttausend Teilnehmer an diesen protofaschistischen Demonstrationen.

Auch Sozialisten und Anarchisten finden sich auf der Seite der Antidreyfusianer, darunter der ehemalige Communarde Rochefort, Chefredakteur des "L'Intransgeant". Andere sind zögerlich. Clément, dem wir das unsterbliche Lied "Temps des cérises" verdanken, dichtet beispielsweise:

Que nous importe, mes amis,

Le bon dieu des capitalistes.

Qu'ils soient plus ou moins circoncis,

Ils sont tous aussi panamanistes.

(Freunde, es ist nicht von Gewicht,/Der liebe Gott der Kapitalisten,/Sind sie beschnitten oder nicht,/Sind doch alle Panamanisten.)

Die Dreyfusaffaire ist damit zu einer Zola-Affaire geworden. Unterstützerlisten kursieren. Zu den Erstunterzeichnern gehört neben Zola, Anatole France (ein Modell für Prousts Bergotte), Georges Sorel auch Marcel Proust. Später unterzeichnen Claude Monet (ein Modell für Prousts Elstir) und Emile Durkheim. Auf der anderen Seite positionieren sich Degas, Cézanne, Renoir, Toulouse-Lautrec und Rodin gegen Dreyfus/Zola. Wichtig wird dann vor allem die Parteinahme des zunächst ebenfalls zögernden Sozialisten Jean Jaurès.

Im Februar 1898 wird Zola der Prozess gemacht. Geradezu fiebrig beobachtet Proust den Prozessverlauf. Der "wissenschaftliche" Graphologe Bertillon bezeichnet Dreyfus als schuldig. Der Zeuge Esterhazy hüllt sich zumeist in Schweigen, erklärt aber unter Applaus: Es gibt etwas Höheres, die Ehre und die Sicherheit des Landes. Zola liest seine Verteidigungsrede vor, während vor dem Gebäude die Menge auf das Signal zum Lynchen wartet - im Fall des Freispruchs. Sie wird dieses Vergnügens beraubt. Zola bekommt die Höchststrafe (1Jahr Gefängnis und 3000 Francs), Jubel bricht aus. Zola verlässt den Saal durch die Hintertür. Vor dem Revisionsprozess im Juni des Jahres, begibt er sich ins englische Exil.

Das Lager der Antidreyfusards zu diesem Zeitpunkt hegemonial. Ihr intellektueller Führer ist Maurice Barrès. Er entwickelt ein Programm des Nationalismus mit den Konstituenten Familie, Rasse, Nation: Wir sind das Produkt einer Kollektivität, die in uns spricht. Zola hingegen denkt ganz natürlichg als entwurzelter Venitianer. Die Intellektuellen, schreibt Barrès, wissen nicht, was Instinkt, Tradition, der Geschmack des Terroirs ist. Die "Ligue francaise de la Patrie " einerseits, die "Ligue des droits de l'homme" andererseits sind in den für Proust so wichtigen Salons verankert.

Im August 1899 bringt Oberst Henry, der mehrere Dreyfus belastende Dokumente gefälscht hat, sich um, nachdem Estarhazy einem Journalisten gestanden hat, der Verräter zu sein. Einem Revisionsprozess muss stattgegeben werden. Dreyfus wird nach Frankreich gebracht. Barrès berichtet über den Prozess täglich. Dreyfus ist für ihn eine elende menschliche Krücke mit der Arroganz des Emporkömmlings. Dass Dreyfus des Verrats fähig ist, schließe ich aus seiner Rasse. Es beruhigt ihn, dass Dreyfus erneut für schuldig erklärt und zu 10 Jahren Haft verurteilt wird.

Zum Glück für Dreyfus - Hannah Arendt weist darauf hin - richtet Paris für das Jahr 1900 die Weltausstellung aus. Der internationale Druck wächst. Dreyfus wird am 19. September begnadigt. Erst 1906 wird er rehabilitiert. Picquart wird zum Brigadegeneral ernannt.

Und Drumont? Der Historiker Georges Kaufmann urteilt: Der Triumph Drumonts war Panama, seine Katastrophe die Dreyfusaffaire. Nach einer kurzen parlamentarischen Episode wird er in seiner Zeitung langsam vom Erfinder des Begriffs "Rassismus", Gaston Méry, verdrängt. 1917 stirbt er fast unbemerkt. Der französische Antisemitismus aber lebte weiter.

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