Cet absurde nom de Swann - Proust und die Dreyfusaffaire (3. Teil)

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Jean Santeuil

Marcel Proust ist einer dieser blassen und parfümierten Intellektuellen, wie Maurice Barrès, seinerseits öffentlicher Intellektueller der nationalen antisemitischen Rechten, die engagierten Dreyfusards zu nennen pflegt. Voller Passion verfolgt er den Zolaprozess im Februar 1897. Im autobiographischen Roman Jean Santeuil, den der damals noch nicht Dreißigjährige als "essence de ma vie" bezeichnet, agiert der Ich-Erzähler wie ein "Reporter-Romancier", der reportierend sein künstlerisches Verhältnis zur Welt klärt. An diesem Roman (eigentlich eher Romanfragmenten) arbeitet Proust von 1895 bis 1899. Erschienen ist er posthum erst im Jahre 1952.

Die Welt des Autors/Erzählers ist wesentlich auch die politische Welt. Jean Santeuil ist eng befreundet mit dem Führer der Sozialisten Couzon (Jean Jaurès), dessen im November 1896 gehaltene Parlamentsrede gegen das erste Massaker an den Armeniern er beschreibt. Jaurès wird von den socialistes, anarchistes, antisemites (!) als "Orator" verehrt, während ihn die monarchistes, opportunistes, radicaux (!) nur als "Rhetor" bezeichnen. Man sieht an den politischen "Lagern", dass die Verhältnisse vor der Affaire alles andere als klar sind.

Jean Santeuil sieht Couzon/Jaurès in der klassischen Situation des die Wahrheit öffentlich bezeugenden Helden, umringt von ironischen Dummköpfen, die unerschütterlich in der Kraft ihrer Dummheit ruhend die Wahrheit verhöhnen. Es ist die Kraft, diese Feindschaft auszuhalten, die Jaurès ein Jahr später so unersetzlich für die Dreyfusaner machen soll. Bekanntlich reizt er im Parlament seine Gegner bis zu körperlichen Attacken. Voller Sympathie stellt in diesem Kontext der Autor/Erzähler, der angeblich nur die Salons im Kopf hat, den "parti socialiste" dem "parti capitaliste et opportuniste" gegenüber. Zumal Jaurès die Sozialisten durch seine Internvention für Dreyfus vom antisemitischen Bazillus befreit (zumindest tendenziell).

Und doch stellt sich eine Grundfrage zwischen die beiden Freunde, die das Verhältnis abkühlen lässt. Die sozialistischen Zeitungen fahren eine Kampagne gegen einen angeblich korrupten, aber für Jean Santeuil unschuldigen Politiker und den Jeans Vater, einem hohen Beamten. Couzon/Jaurès rechtfertigt sich und seine Partei: Ich bin nicht Herr meines Lebens. Es gehört meinen Ideen. Jean antwortet voller Zorn: Ich weiß nicht, was sie (die Ideen) zum Glück aller beitragen. Ich sehe nur, dass sie das Glück eines Einzelnen zerstört haben.

Jaurès nimmt später mit seinem Engagement für Dreyfus genau diese Position ein.

Zu Beginn des Jahres 1897 ist die Affaire Dreyfus eine Affaire Zola geworden. Dessen Prozeß wird vom Autor/Erzähler fieberhaft verfolgt. Am 18. Februar wird der Chef des Generalstabs de Boisdeffre (den Zola im "J'accuse" schwer "beleidigt" hat) als Zeuge für die Richtigkeit der gefälschten Papiere vorgeladen. Im Jean Santeuil lesen wir die subtile Destruktion einer unhinterfragten Autorität.

Zunächst ist da die Erwartung der Zuschauer des Spektakels (man fühlt sich an einen Opernchor erinnert): Ein Fiaker hielt an, ein Offizier stieg aus sowie ein Herr in Zivil. "Das ist er nicht." - "Doch, das ist er." - "Aber nein, das ist nicht Boisdeffre." - "Er ist's, wenn ich's dir sage.

Dann die Beschreibung des mächtigen Militärchefs:

Der Herr in Zivil war sehr groß, und vor allem sah man einen sehr hohen Zylinder etwas schief auf seinem Kopf... Er ging langsam, ein Bein war steif, als ob es einmal gebrochen war, manchmal blieb er stehen. Obwohl er noch ziemlich jung aussah, waren seine Wangen mit einer Art feinen roten oder violetten Lepra bedeckt - der Erzähler wird dann politisch-metaphorisch - ähnlich jener, mit der junger Wein oder bestimmte Moose die herbstlichen Mauern bedecken. Der Erzähler resümiert: ein erhabenes Etwas, das sich General de Boisdeffre nennt.

Dieser "aristocrate clérical" müht sich die Treppe hinauf, um - oben angekommen - zu erfahren, dass auf Befehl der Regierung sein Gerichtsauftritt vorerst abgesagt se. Er humpelt also wieder die Treppe hinunter, unter den imensen Akklamationen der Menge, versteht sich. Man bekommt fast Mitleid mit diesem antisemtischen Reaktionär, der sich tapfer dem Zwang seiner Rolleunterwirft, zumal Prozessbeobachter der Massenpresse sich schon fragen: Wird er sich das Gehirn herauspusten müssen?

Das Gegenbild ist der Wahrheitsfinder. An erster Stelle natürlich der Colonel Picquart. Auch er hat seine Anhänger, die im Gerichtssaal "Vive Picquart!" rufen und sich dadurch einem Gerichtsbericht zufolge des Hass anwesender Offiziere zuziehen. Proust schreibt die Picquartsequenz Ende 1897. Der ehemalige Geheimdienstoffizier wird als Typus des neuen republikanischen Offiziers präsentiert, weder jung noch alt, blond, ohne Schnurrbart (beides ist falsch), ein wenig wie ein israelitischer Ingenieur. Picquart, in himmelblauer Uniform, kam aus Afrika (er war nach Tunis versetzt worden) und kannte nur durch die mißgünstigen Zeitungen diese ganze Welt von Journalisten, Gegnern, Richtern, die den Saal füllte. Ein Wahrheitsfinder wie Jaurès. Picquart wird mit einem Poeten verglichen, der der Spionage angeklagt wird, weil er während zwei Stunden den Farbwechsel der untergehenden Sonne auf einer Kaserne betrachtet hat. Er macht seine Aussage in odeurs de sandwiches. Die Zuschauer des Spektakels haben Hunger.

Dem "neuen Offizier" vergleichbar ist der homme de science, der, obwohl vielleicht monarchistisch oder ein enger Freund des Kriegsministers, sich den Fakten verpflichtet weiß. Der schwört, dass es sich nicht um die Handschrift Dreyfus' handeln kann. Und der darüber sogar dem Angeklagten Zola die Hand gibt. Es ist dies eine Grundlinie des Romans (die auch im Dialog Santeuil - Jaurès deutlich wird): die Empathie mit den Erniedrigten, sei es das gedemütigte Küchemmädchen oder gar die Erinnerung an den qualvollen Tod des so schmackhaft präsentierten gebratenen Hahns.

Und so stehen gegen Ende des Kapitels zwei Einsichten.

Proust lässt den Grafen T., einen Mann von Herz und Intelligenz, sagen: Wenn ihn (Picquart) die Militärs, das Volk und die Zeitungen bekämpften und eine Art Märtyrer aus ihm machten, lag dies nicht an seinen Fehlern, sondern (daran, dass) er aus Wahrheitsliebe gehandelt hat.

Pessimistischer klingt die traurige Bemerkung von Jean Santeuils (jüdischer) Mutter: Nichts wird sie aufhalten, sie fühlen sich als die Stärksten.


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